Defekt
dass Sie noch keine Zeit hatten, Ihren Arzt
aufzusuchen?“
Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hat,
stellt er seinen Aktenkoffer auf einen kleinen Metalltisch. George ist über
sechzig und klagt ständig über verschiedene Beschwerden. Er hasst seinen Beruf.
Er hasst seine Frau. Er hasst das Wetter. Er hasst Politiker. Und wenn er kann,
nimmt er das Foto des Gouverneurs von der Wand in der Vorhalle. Seit einem Jahr
leidet er unter permanenter Müdigkeit, Magenbeschwerden und diffusen
Schmerzen. Ärzte hasst er ebenfalls.
„Da ich sowieso keine Medikamente nehmen würde,
brauche ich gar nicht erst hinzugehen. Mehr bringen Arzte heutzutage ohnehin
nicht mehr zustande. Sie stopfen einen nur mit Tabletten voll“, sagt George,
während er Bentons Aktenkoffer durchsucht und ihn ihm zurückgibt. „Ihr Freund
wartet am üblichen Treffpunkt. Viel Spaß.“
Wieder ein Klicken, und Benton tritt durch eine
weitere Stahltür. Ein Wachmann in beigebrauner Uniform, er heißt Geoff, führt
ihn einen gebohnerten Flur entlang und durch die nächste hydraulische Schleuse
in den Hochsicherheitsbereich. Hier können sich Anwälte und Psychologen mit den
Insassen in winzigen, fensterlosen Betonzellen treffen.
„Basil beschwert sich, weil er seine Post nicht
kriegt“, beginnt Benton.
„Der redet viel, wenn der Tag lang ist“, entgegnet
Geoff mürrisch. „Ein richtiger Labersack.“
Er öffnet eine graue Stahltür und hält sie auf.
„Danke“, meint Benton.
„Ich warte draußen.“ Nach einem finsteren Blick auf
Basil schließt Geoff die Tür.
Basil, der an einem kleinen Holztisch sitzt, steht
nicht auf. Er ist nicht gefesselt und trägt die übliche Gefängniskleidung, eine
blaue Hose, ein weißes T-Shirt und Badelatschen mit Socken. Seine Augen sind
blutunterlaufen und starren ins Leere. Außerdem stinkt er.
„Wie fühlen Sie sich, Basil?“, fragt Benton und
nimmt ihm gegenüber Platz.
„Ich hatte einen schlechten Tag.“
„Das habe ich gehört. Erzählen Sie mir davon.“
„Ich habe Angst.“
„Wie schlafen Sie?“
„Ich habe fast die ganze Nacht wach gelegen. Dauernd
musste ich an unser Gespräch denken.“
„Sie wirken nervös“, merkt Benton an.
„Ich kann nicht still sitzen. Das liegt an dem, was
ich Ihnen gesagt habe. Ich brauche etwas, Dr. Wesley. Ativan oder so. Haben
Sie sich die Bilder schon angesehen?“
„Welche Bilder?“
„Die von meinem Gehirn. Ganz bestimmt haben Sie das.
Ich weiß, dass Sie neugierig sind. Alle dort sind neugierig, richtig?“, fragt
Basil mit einem schiefen Grinsen.
„Wollten Sie mich deshalb sprechen?“
„Mehr oder weniger. Und ich will meine Post. Sie
geben sie mir einfach nicht, und ich kann weder schlafen noch essen, so nervös
und gestresst bin ich. Ein bisschen Ativan wäre nicht schlecht. Ich hoffe, Sie
haben darüber nachgedacht.“
„Worüber denn?“
„Was ich Ihnen über die ermordete Frau erzählt
habe.“
„Die Frau im Christmas Shop?“
„Zehn-vier.“
„Ja, ich habe mir sehr ausführlich Gedanken über das
gemacht, was Sie mir anvertraut haben, Basil“, erwidert Benton, so als hielte
er Basils Worte für die Wahrheit.
Er darf es sich nicht anmerken lassen, wenn er den
Verdacht hat, dass ein Patient ihn anlügt. Allerdings ist er sich in Basils
Fall da auch nicht so sicher.
„Befassen wir uns noch einmal mit diesem Tag im Juli
vor zweieinhalb Jahren“, beginnt Benton.
Es stört Marino, dass Dr. Seif die Tür hinter ihm
schließt und sofort den Riegel vorschiebt, als wolle sie ihn aussperren.
Er empfindet die Geste und das, was sie andeutet,
als beleidigend. So geht es ihm immer. Dr. Seif interessiert sich offenbar
nicht wirklich für ihn. Für sie ist er nur ein Patient, und sie ist froh, dass
sie ihn los ist und sich eine Woche lang nicht mehr mit ihm beschäftigen muss.
Dann wird sie sich wieder fünfzig Minuten - und wirklich nur fünfzig Minuten,
keine Sekunde länger - Zeit für ihn nehmen, auch wenn er seine Medikamente
abgesetzt hat.
Das Zeug ist Mist. Mit dem Sex hat es nicht mehr
geklappt, und was nützt einem das beste Antidepressivum, wenn man dann keinen
Sex mehr haben kann? Wer unbedingt depressiv sein will, nimmt wohl am besten
ein Antidepressivum, das ihm dann auch noch den Sex vermiest.
Marino steht in Dr. Selfs Wintergarten vor der
verschlossenen Tür und starrt ziemlich benommen auf die beiden Stühle mit den
hellgrünen Kissen und den grünen Glastisch, auf dem ein Stapel Zeitschriften
liegt.
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