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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Blick. Doch unbewusst spüren die anderen es auch,
und sie reagieren darauf.
    Marino wird häufig zum Opfer von Beschimpfungen, Unfreundlichkeit,
Lügen, Zurückweisung und Betrug. Er gerät oft in Auseinandersetzungen. Er
behauptet, im Rahmen seines anstrengenden und gefährlichen Berufs schon einige
Menschen getötet zu haben. Wer so unklug ist, sich mit ihm anzulegen, macht
rasch die Erfahrung, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen ist. Doch Marino
sieht das ganz anders. Seiner Ansicht nach hackt seine Umwelt völlig grundlos
auf ihm herum, und er glaubt, dass die Feindseligkeiten bis zu einem gewissen
Grad mit seinem Job zusammenhängen. Außerdem ist er überzeugt davon, dass man
ihn diskriminiert, weil er in ärmlichen Verhältnissen in New Jersey
aufgewachsen ist. Er begreift einfach nicht, warum die Leute ihm schon sein
ganzes Leben lang so übel mitspielen.
    Seit einigen Wochen geht es ihm immer schlechter.
Und heute Nachmittag steht es ganz besonders schlimm um ihn.
    „Lassen Sie uns in den Minuten, die uns noch
bleiben, über New Jersey sprechen.“ Dr. Seif erinnert ihn mit voller Absicht
daran, dass die Sitzung gleich vorbei ist. „Letzte Woche haben Sie einige Male
New Jersey erwähnt. Warum ist New Jersey noch so wichtig für Sie?“
    „Wenn Sie dort groß geworden wären, wüssten Sie es“,
gibt Marino zurück, und der Gesichtsausdruck verstärkt sich.
    „Das ist keine Antwort, Pete.“
    „Mein Vater war Alkoholiker. Wir haben in der
falschen Gegend gewohnt. Die Leute werfen mir immer noch Blicke zu, als ob sie
wüssten, dass ich aus New Jersey bin, und damit fängt es an.“
    „Vielleicht liegt es ja an Ihrem Gesichtsausdruck,
nicht an den Blicken der Leute, Pete“, wendet sie wieder ein. „Vielleicht sind
Sie ja derjenige, der anfängt.“
    Auf dem Tisch neben Dr. Selfs Ledersessel klickt der
Anrufbeantworter. Marinos Gesichtsausdruck wird immer eindringlicher. Er mag
keine Störung bei den Sitzungen, auch wenn Dr. Seif nicht an den Apparat geht.
Es will ihm nicht in den Kopf, warum sie noch immer auf altmodische Technik
vertraut, anstatt sich eine Telefonananlage mit Mailbox-System anzuschaffen,
die nicht klickt, wenn jemand eine Nachricht hinterlässt, sodass es nicht zu
ärgerlichen Unterbrechungen kommt. Das hält er ihr immer wieder vor. Sie schaut
diskret auf ihre Armbanduhr. Es ist eine große goldene Uhr mit römischen
Ziffern, die sie auch ohne Lesebrille erkennen kann.
    In zwölf Minuten ist die Sitzung vorbei. Pete Marino
hat Probleme mit Abschlüssen, mit Endgültigkeit und überhaupt mit allem, was
vorbeigeht, aufhört, verbraucht wird oder stirbt. Es ist kein Zufall, dass Dr.
Seif seine Termine stets auf den späten Nachmittag legt, vorzugsweise auf fünf
Uhr, wenn es dämmert und wenn die nachmittäglichen Gewitter nachlassen. Er ist
ein interessanter Fall. Ansonsten würde sie sich gar nicht mit ihm befassen. Es
ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn dazu überredet haben wird, in ihrer
landesweit ausgestrahlten Radiosendung oder vielleicht sogar in ihrer neuen
Fernsehshow aufzutreten. Sicher ist er sehr telegen, ganz im Gegensatz zu
diesem belanglosen und geschwätzigen Dr. Arnos.
    Einen Polizisten hatte sie noch nie in der Sendung.
Als sie im Sommersemester einen Gastvortrag an der National Forensic Academy
gehalten hat, saß sie bei dem ihr zu Ehren veranstalteten Abendessen neben
Marino. An diesem Tag ist ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass er ein
spannender Gast in ihrer Show sein könnte, vermutlich sogar ein häufiger. Ganz
offensichtlich brauchte er eine Therapie. Er trank zu viel: Sie hat mit eigenen
Augen gesehen, wie er sich vier Bourbon genehmigte. Außerdem war er Raucher,
das konnte sie deutlich riechen. Und er war ein zwanghafter Esser und
verschlang drei Portionen Nachtisch. Als sie ihn kennen lernte, strotzte er nur
so von Selbstzerstörung und Selbsthass.
    Ich kann Ihnen helfen, hat sie an diesem Abend zu ihm gesagt.
    Wobei? Er reagierte, als hätte sie ihm unter dem Tisch zwischen
die Beine gegriffen.
    Mit Ihren Stürmen, Pete. Ihren
inneren Stürmen. Erzählen Sie mir von Ihren Stürmen. Ich werde Ihnen dasselbe
sagen wie auch all diesen klugen jungen Lehrgangsteilnehmern. Sie können Ihr
Wetter bestimmen. Sie können es nach Belieben steuern. Sie können zwischen
Gewitter und Sonnenschein wählen. Sie können sich zusammenkauern und sich
verstecken oder erhobenen Hauptes ausschreiten.
    In meinem Beruf muss man mit dem
erhobenen Haupt

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