Defekt
Gainesville?“
„Wo bist du?“
„Du hast mir nie deinen Nachnamen verraten“,
erwidert Lucy.
„In wessen Haus bist du, wenn nicht in deinem?
Zumindest nehme ich an, dass du in einem Haus wohnst.“
„Kommst du je in den Süden?“
„Ich kann fahren, wohin ich will. Südlich wovon?
Bist du in Boston?“
„Nein, in Florida“, antwortet Lucy. „Ich würde dich
gern sehen. Wir müssen miteinander reden. Was hältst du davon, mir deinen
Nachnamen zu sagen, damit wir uns nicht mehr wie Fremde fühlen?“
„Worüber willst du denn mit mir reden?“
Sie wird Lucy ihren vollständigen Namen nicht
verraten. Ein drittes Mal nachzufragen wäre zwecklos. Vermutlich wird sie
überhaupt nicht mit der Sprache herausrücken, zumindest nicht am Telefon.
„Warum unterhalten wir uns nicht persönlich?“,
schlägt Lucy vor.
„Das ist immer besser.“
Lucy verabredet sich mit Stevie für den nächsten
Abend um zehn Uhr in South Beach.
„Kennst du eine Bar namens Deuce?“, sagt sie.
„Das ist ziemlich berühmt“, erwidert Stevies
verführerische Stimme. „Ich kenne es gut.“
40
Die runde Messingspitze auf dem Bildschirm strahlt
wie ein Mond. Im Schusswaffenlabor der Massachusetts State Police sitzt Tom,
ein Waffenspezialist, umgeben von Computern und Vergleichsmikroskopen in einem
dämmrig erleuchteten Raum. Endlich hat das landesweite ballistische Netzwerk
NIBIN auf seine Anfrage reagiert.
Er starrt auf die vergrößerten Abbildungen feiner
Rillen und Einkerbungen, die sich von den Metallteilen einer Schusswaffe auf
die Messingspitzen zweier Geschosse übertragen haben. Wenn man die beiden Fotos
überlagert und die Hälften in der Mitte verbindet, passen die mikroskopischen
Signaturen, wie Tom sie nennt, perfekt zusammen.
„Natürlich bezeichne ich es offiziell nur als mögliche Übereinstimmung, bis ich mich mit dem Vergleichsmikroskop
vergewissert habe“, erklärt er Dr. Wesley am Telefon, dem legendären Benton
Wesley!
Das ist cool, denkt Tom wider Willen.
„Und das heißt, dass der Pathologe in Broward County
mir seine Ergebnisse schicken muss, was zum Glück kein Problem darstellt“,
fährt Tom fort. „Vorläufig möchte ich nur sagen, dass sich zu diesem Fall
sicher etwas im Computer finden lässt. Meiner - natürlich auch nur vorläufigen
- Ansicht nach wurden die beiden Geschosse aus derselben Waffe abgefeuert.“
Gespannt wartet er auf eine Reaktion und ist so in
Hochstimmung und aufgekratzt, als hätte er zwei Whisky Sour intus. Die
Aussage, dass eine Übereinstimmung besteht, ist, als überbrächte man dem
Ermittler die Nachricht, er habe im Lotto gewonnen.
„Was wissen Sie über den Fall in Hollywood?“, fragt
Dr. Wesley, ohne auch nur eine Spur von Dankbarkeit zu zeigen.
„Eigentlich nur, dass er aufgeklärt ist“, erwidert
Tom gekränkt.
„Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz“, gibt Dr.
Wesley in demselben ungnädigen Ton zurück.
Er weiß Toms Bemühungen nicht zu schätzen und
verhält sich herablassend. Das hätte Tom sich eigentlich denken können. Da er
ihm bis jetzt weder persönlich begegnet ist noch mit ihm gesprochen hat, wusste
er nicht, womit er rechnen musste. Allerdings hat er von Benton und seiner
Karriere beim FBI gehört, und schließlich ist allgemein bekannt, dass das FBI
dazu neigt, den dicken Max zu markieren, die Ermittler vor Ort herumzukommandieren
und sie wie Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Wird ein Fall dann
erfolgreich abgeschlossen, heimst das FBI die Lorbeeren ein. Der Typ ist ein
arrogantes Arschloch. So viel steht fest. Kein Wunder, dass Thrush ihn direkt
auf den sagenumwobenen Dr. Benton Wesley angesetzt hat. Thrush hat nämlich
keine Lust, sich mit ihm oder sonst jemandem zu beschäftigen, der jemals beim
FBI gewesen ist.
„Vor zwei Jahren“, erwidert Tom, nun nicht mehr so
freundlich.
Er klingt mürrisch und verstockt. So hört er sich
laut seiner Frau immer an, wenn er sich herabgewürdigt fühlt und sich dagegen
zur Wehr setzt. Obwohl er findet, dass er sich eine derartige Behandlung nicht
gefallen lassen muss, möchte er eigentlich nicht mürrisch und verstockt
wirken.
„In Hollywood wurde ein Lebensmittelladen
überfallen“, sagt er, um einen freundlicheren Tonfall bemüht. „Der Typ kommt
rein, trägt eine Gummimaske und fuchtelt mit einem Schrotgewehr rum. Als er auf
den Jungen schießt, der gerade den Fußboden auffegt, jagt der Filialleiter ihm
mit der Pistole, die er unter dem Tresen aufbewahrt, eine
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