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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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mehrere Gründe haben:
Vielleicht hat das Opfer sie unter Zwang abgelegt und später wieder angezogen.
Oder der Täter hat die Frau nach ihrem Tod entkleidet. Es ist eine Leinenhose.
In New England um diese Jahreszeit weißes Leinen zu tragen ist eigentlich eher
unüblich. Ein Foto zeigt die Hose ausgebreitet auf einem mit Papier bedeckten
Autopsietisch. Die Blutspuren verraten so einiges. Von den Knien aufwärts ist
die Vorderseite des Kleidungsstücks mit steif angetrocknetem braunem Blut
bedeckt. Unterhalb der Knie befinden sich nur ein paar Schmierer. Benton stellt
sich vor, dass das Opfer gekniet hat, als es erschossen wurde. Da ist er
ziemlich sicher. Als er erneut versucht, Scarpetta zu erreichen, nimmt sie
nicht ab.
    Erniedrigung. Kontrolle. Die absolute Demütigung
eines wehrlosen Opfers. So wehrlos wie ein Kleinkind. Vielleicht mit einer
Kapuze über dem Kopf wie bei einer Hinrichtung. Oder wie ein Kriegsgefangener,
dem man Todesangst bereiten will. Vermutlich stellt der Täter eine Szene aus
seinem eigenen Leben nach. Gewiss aus seiner Kindheit. Sexueller Missbrauch
kommt in Frage. Möglicherweise Sadismus. So etwas steckt nämlich in den meisten
Fällen dahinter. Wie du
mir, so ich dir. Wieder ruft er Scarpetta
an. Vergeblich.
    Basil fällt ihm ein. Auch er hat seine Opfer
drapiert, sie irgendwo angelehnt, einmal an die Wand der Damentoilette in
einer Autobahnraststätte. Benton ruft sich diese Szene und die Autopsiefotos
von Basils Opfern ins Gedächtnis - zumindest von denen, die bekannt sind -, und
er sieht die blutigen, augenlosen Gesichter der Toten vor sich. Vielleicht hat
er deshalb daran denken müssen: Die Augenlöcher in dem Höschen erinnern ihn an
Basils Opfer.
    Bestimmt hat es mit der Kapuze eine bestimmte
Bewandtnis. Es muss einfach mehr dahinterstecken. Ein Mensch, dem man eine Kapuze
über den Kopf stülpt, ist dem Täter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Flucht
oder Gegenwehr sind unmöglich, und er kann nach Belieben gequält,
eingeschüchtert und bestraft werden. Soweit man weiß, trug keines von Basils
Opfern eine Kapuze, doch bei einem Mord aus sadistischen Beweggründen bleibt so
vieles im Dunkeln. Und das Opfer kann nichts mehr zum Tathergang sagen.
    Benton befürchtet, dass er bereits zu viel Zeit
damit verbracht hat, sich in Basil hineinzuversetzen.
    Wieder wählt er Scarpettas Nummer.
    „Ich bin's“, sagt er, als sie sich meldet.
    „Ich wollte dich gerade anrufen“, erwidert sie knapp
und kühl und mit zitternder Stimme.
    „Du klingst, als würde dich etwas bedrücken.“
    „Du zuerst, Benton“, antwortet sie in einem Tonfall,
der sich für Benton sehr fremd anhört.
    „Hast du geweint?“ Er versteht nicht, warum sie sich
so verhält. „Ich wollte mit dir über meinen Fall hier reden“, sagt er dann.
    Sie ist der einzige Mensch, der es schafft, Angst in
ihm auszulösen.
    „Ich habe gehofft, mit dir darüber sprechen zu
können. Im Moment sehe ich mir gerade die Unterlagen an“, fährt er fort.
    „Schön, dass es noch etwas gibt, worüber du mit mir
reden willst.“ Sie betont das Wort etwas.
    „Was ist los, Kay?“
    „Lucy“, antwortet sie. „Es geht um Lucy. Du weißt es
seit einem Jahr. Wie konntest du mir das antun?“
    „Sie hat es dir gesagt“, entgegnet er und kratzt
sich am Kinn.
    „Sie wurde in deinem gottverdammten Krankenhaus
untersucht, und du hast keinen Ton gesagt. Weißt du was? Sie ist meine Nichte,
nicht deine. Du hast kein Recht ...“
    „Sie hat mir das Versprechen abgenommen.“
    „Sie hatte auch nicht das Recht...“
    „Doch, das hat sie, Kay. Ohne ihre Zustimmung darf
dich niemand informieren. Nicht einmal ihre Ärzte.“
    „Aber dir hat sie es erzählt.“
    „Aus gutem Grund.“
    „Es ist ernst. Wir müssen eine Lösung finden. Aber
ich bin nicht sicher, ob ich dir noch vertrauen kann.“
    Benton seufzt, und sein Magen krampft sich zusammen.
Sie streiten nur selten. Wenn es doch dazu kommt, ist es verheerend.
    „Ich lege jetzt auf“, fährt Scarpetta fort. „Wir
müssen eine Lösung finden“, wiederholt sie dann.
    Sie beendet das Telefonat, ohne sich zu
verabschieden. Benton sitzt da und ist im ersten Moment unfähig, sich zu rühren.
Mit stumpfem Blick starrt er auf das grausige Foto auf seinem Bildschirm,
klickt dann wahllos verschiedene mit dem Fall zusammenhängende Dateien an,
liest Berichte und überfliegt die Schilderung, die Thrush für ihn
aufgeschrieben hat. Ihm ist alles recht, um sich von dem Gespräch gerade

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