Deichgrab
Hause gekommen. Das allein hatte für sie gezählt.
Oft hatte sie so getan, als würde sie schon schlafen, wenn er sich leise neben sie ins Bett gelegt hatte. Sie hatte mit klopfendem Herzen gewartet, bis sie seinen gleichmäßigen Atem hören konnte, war aufgestanden, hatte sich im Bad eingeschlossen und bitterlich geweint. Häufig hatte sie sich gefragt, wie es weitergehen sollte. Wie sie es ertragen sollte, dass Lorentz sie nicht beachtete, ihre Liebe nicht erwiderte.
Nach dem Verschwinden von Britta Johannsen war es noch schlimmer geworden. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Nach der stundenlangen Suchaktion war er mit verquollenen Augen nach Hause gekommen und hatte eine ganze Flasche Korn getrunken. Dann war er gegangen und erst zwei Tage später wieder heimgekehrt. Während der Deichbauarbeiten nach der Sturmflut hatte er sich krank gemeldet und tagelang im Bett gelegen. Frieda hatte ihm Tee gekocht und Hühnersuppe. Er hatte beides nicht angerührt. Schweigend hatte er an die Decke gestarrt. Wie heute. Nur mit dem Unterschied, dass Frieda damals die Hoffnung hatte, dass dieser Zustand irgendwann ein Ende haben würde. Es hatte zwar etliche Wochen gedauert, aber langsam hatte sich sein Verhalten wieder normalisiert. Er hatte wieder mit ihr gesprochen, war zur Arbeit gegangen und ab und zu hatte er sie sogar ausgeführt. Und dennoch hatte es irgendetwas gegeben, was sie voneinander trennte, zwischen ihnen stand. Frieda hatte es deutlich gespürt, aber nicht gewusst, was es war.
Martin Schleiers Wagen stand wirklich direkt um die Ecke. Im absoluten Halteverbot. Er entfernte das Knöllchen hinter dem Scheibenwischer, zerknüllte es, und ließ das Papier zu Boden fallen. Tom blickte ihn erstaunt an.
»Ich kenne den Polizeipräsidenten.«
Tom kletterte auf den Beifahrersitz des dunkelgrünen Geländewagens und schnallte sich an. Im Wagen roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Martin Schleier gab Gas und fuhr in südliche Richtung.
Tom schwieg und dachte darüber nach, warum der ehemalige Journalist ihn mit zu sich nach Hause nahm. Im Grunde genommen war er ja ein wildfremder Mensch für ihn.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich das hier mache, stimmt’s?«
»Ja, schon.«
Martin Schleier zündete sich eine Zigarette an.
»Wissen Sie, als ich Ihnen vorhin von meinem Besuch in dem Dorf Ihres Onkels erzählte, erinnerte ich mich haargenau an das Gefühl, welches ich dort verspürt habe. Diese düstere Stimmung. Die feindselige Haltung der Leute, so als störe man ihren Dorffrieden. Ich weiß noch, wie ich bei der Fahrt durchs Dorf gedacht habe, dass dort noch mehr im Argen liegen musste. Die Leute hatten Dreck am Stecken. Ich habe mir eigentlich geschworen, es herauszufinden. Aber daraus wurde leider nichts.«
»Wieso nicht?«
»Ich bekam eine neue Story, die mich voll und ganz in Anspruch nahm. Hier auf Sylt wurden plötzlich Giftfässer angespült. Ganz in der Nähe von Wenningstedt. Das war natürlich eine Riesenstory, vor allem als man herausfand, dass die Fässer von der Papierfabrik in Flensburg stammten.«
»Wie, von der, die geschlossen worden ist?«
»Ja, wegen der Fässer musste sie ja schließen. Die Papierfabrik war ohnehin schon stark verschuldet gewesen. Sie hätte ein komplett neues Abwassersystem und eine Wiederaufbereitungsanlage benötigt, um das Chlor umweltgerecht und kostengünstiger zu entsorgen. Aber das Geld für die Investition fehlte und so haben die eben das Chlor in der Nordsee verklappt.«
»Chlor?«
»Die Papierfabrik benutzte es als Bleichmittel. In der Dosierung ist es hochgiftig und es kostet eine Menge Geld, es entsorgen zu lassen. Geld, welches die Papierfabrik nun mal nicht hatte. Das Strafgeld und natürlich die Imageschädigung durch den Skandal gaben der Fabrik dann den Rest und sie ging in Konkurs.«
»Aber woher wusste man, dass die angespülten Fässer von der Flensburger Papierfabrik waren?«
»Der Trottel, der sie verklappt hat, hatte sich noch nicht mal die Mühe gemacht, die Kennung von den Fässern zu kratzen.« Martin Schleier lachte. »So doof muss man erst mal sein!«
Sie erreichten Hörnum und bogen von der Hauptstraße in einen Nebenweg ab. Tom konnte den Leuchtturm sehen, der nicht nur den Hafen, sondern gleichzeitig auch die Südspitze der Insel markierte. Hier war es deutlich ruhiger. Nur wenige Besucher spazierten durch den kleinen Inselort.
Martin Schleier hielt vor einem Reetdachhaus aus roten Klinkersteinen. Er begrüßte
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