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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
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Tom aß mit großem Appetit. Martin Schleier hob sein Glas und nickte ihm zu.
    »Auf dass Sie die Wahrheit finden mögen!« Er nahm einen kräftigen Schluck.
    Nach dem Essen bestellten sie einen Espresso und einen Cognac. Es war immer noch angenehm warm, obwohl es bereits nach zweiundzwanzig Uhr war, wie Tom durch einen verstohlenen Blick auf seine Uhr feststellte. Er wollte nicht unhöflich sein, aber wenn er den letzten Zug bekommen wollte, musste er langsam aufbrechen. Martin Schleier bemerkte seine Unruhe.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie können gerne bei mir übernachten. Der Abend ist so schön, wäre schade ihn in Hektik enden zu lassen. Ich kann nicht mehr fahren und bis Sie ein Taxi von hier nach Westerland bekommen, ist der letzte Zug schon auf dem Damm.«
    »Aber ist es Ihrer Frau denn recht, wenn ich bei Ihnen übernachte?«
    »Die ist mit meinem Sohn bei ihrer Schwester auf dem Festland und kommt erst morgen wieder.«
    Er nahm das Angebot gerne an. Der Abend war wirklich schön, und nur ungern wäre er jetzt nach Hause gefahren. Vielleicht lag es an dem faszinierenden Licht, in das die untergehende Sonne die Insel tauchte und das beinahe eine mystische Stimmung herrschen ließ. Vielleicht lag es aber auch an dem Wein, von dem sie bereits die zweite Flasche geleert hatten. Tom fühlte sich einfach wohl. Das beklemmende Gefühl, welches er im Dorf ständig verspürte, war von ihm abgefallen, und seit seiner Ankunft im Norden empfand er eine Leichtigkeit, die ihn die Geschehnisse der letzten Tage mit Distanz betrachten ließ. Ein Mädchen war verschwunden, es gab keine Leiche. Sein Onkel, der mutmaßliche Mörder, war aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Der angeblich beste Freund hatte Hannes zunächst belastet, dann aber seine Aussage zurückgezogen. Elke Ketelsen hielt Hannes für einen Kinderschänder. Ihr Mann jedoch war von Onkel Hannes Schuld nicht überzeugt. Dann waren da noch ein Schlüssel und der mysteriöse Einbruch.
    »Wem, außer meinem Onkel, hätten s ie den Mord zugetraut?«
    »Ehrlich?«
    Tom nickte.
    »Eigentlich fast jedem aus dem Dorf. Außer den Eltern, obwohl der Vater auch merkwürdig reagiert hat.«
    »Inwiefern?«
    »Na ja, ich weiß ja nicht genau, wie es ist, wenn das eigene Kind plötzlich verschwindet, aber irgendwie trauriger oder unglücklicher hätte ich mir einen Vater schon vorgestellt. Aber er wirkte, wie soll ich das beschreiben, beinahe befreit oder erleichtert. So in der Art, es ist schon schlimm, aber das Leben geht weiter.«
    Tom runzelte die Stirn. So eine Reaktion war wirklich ungewöhnlich. Von einem Vater, dessen Kind wahrscheinlich ermordet worden war, hätte er auch etwas anderes erwartet.
    »Und sonst, gab es noch andere auffällige Personen?«
    »Jede Menge. Im Prinzip hat sich niemand wirklich normal verhalten. Wie gesagt, die unglaubwürdigen Aussagen, die Ausschreitungen im Gerichtssaal. Nur ein Mann ist mir besonders aufgefallen. Nicht weil er eine spektakuläre Aussage gemacht oder extrem demonstriert hätte, sondern weil er einfach nichts sagte. Nie. Er saß immer nur da und hörte zu. Und irgendwann war er verschwunden.«
    »Wie sah der Mann aus?«
    Bei der Beschreibung überkam Tom plötzlich das Gefühl, den Mann zu kennen. Sie passte haargenau auf den Mann, der vor zwei Tagen an seiner Tür geklingelt und nach Betrachten des Gartens behauptet hatte, er wolle Onkel Hannes Haus kaufen. Aber das konnte nicht sein. Der Prozess lag mehr als dreißig Jahre zurück, der Mann, der hier beschrieben wurde, müsste heute über sechzig sein. Herrn Crutschinow jedoch schätzte Tom höchstens auf Anfang vierzig.
    »Haben Sie den Mann noch einmal wieder gesehen?«
    Martin Schleier schüttelte den Kopf.
    Es war spät. Der Kellner hatte bereits die Stühle an den anderen Tischen hochgestellt. Verstohlen blickte er von der Tür zu ihrem Tisch hinüber, bis Martin Schleier ihm winkte und die Rechnung verlangte. Tom zahlte, wie es vereinbart gewesen war. Dann brachen sie auf.
    Die Sonne war schon lange untergegangen und der Mond leuchtete über der Nordsee. Sie machten einen kleinen Umweg über den Hafen. Das Wasser schlug plätschernd gegen die Kaimauer, ansonsten herrschte eine vollkommene Stille. In der Ferne war ein Licht zu sehen.
    »Lichtschnücken«, erklärte Martin Schleier, der Toms Blick gefolgt war.
    »Es gibt die Sage, dass ein Mann aus Tinnum eines Abends eine kleine Flamme aus dem südlichen Haff auftauchen sah. Bei Wadens, dem südlichen

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