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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Haut von heute Morgen hatte sich in eine Landschaft verwandelt, die auf einer Landwirtschaftsmesse eine Sensation gewesen wäre.
    Ich ging mühsam zu dem Ausländer und setzte mich neben ihn.
    Er sah zu mir auf. Seine Augen waren schwarz und traurig und verständnislos. »Ich hatte ihnen nichts getan!«, stieß er hervor. »Warum sie schlagen mich dann, alle die Männer. Weil ich nicht gleiche Hautfarbe habe wie sie? Weil ich nicht aus gleichem Land komme? Ich nicht versteh. Ich nicht versteh!«
    Ich versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte stolperten in meinem Mund übereinander.
    Er sah mich an, ließ seinen Blick über die Reste meines Gesichts wandern. Er sah verwirrt aus. »Aber du – du aus Norwegen? Und sie schlagen auch dich? Aber warum?«
    »Ich kam nicht aus dem gleichen Stadtteil.«
    Er schüttelte ungläubig den Kopf, sah auf die großen, weißen Zähne hinunter, die wie frisch gewaschene Diamanten in seiner Handfläche lagen. »Ich nicht versteh, warum Leute sich schlagen – überhaupt!«
    Ein Arzt kam. Es war einer dieser jungen Ärzte, die sie dort zur Spätschicht einsetzen, immer einen Witz auf den Lippen, immer eine nette Fehldiagnose in der Hinterhand. Er baute sich vor uns auf und sah von einem zum anderen. »Wer von euch hat noch am längsten zu leben?«, fragte er.
    »Er war zuerst da«, sagte ich.
    »Er ist hier falsch«, sagte der Arzt. »Er sollte zum Zahnarzt gehen. Die Reserven einsetzen lassen.« Er gab ein Zeichen, dass der Mann mit ihm kommen sollte. »Na komm, Kamerad. Wir sehen uns zuerst mal die Schnittwunden an.«
    Er nahm ihn mit hinter einen grünen Vorhang.
    Der Arzt und der Ausländer kamen hinter dem Vorhang hervor. Der Ausländer wurde zu einem Büro geschickt, wo er nähere Angaben machen sollte. Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. »Und aus welcher Straßenbahn bist du gefallen?«
    »Sandviksbahn«, sagte ich. »Vor zwanzig Jahren. Es dauert so verdammt lange, bis man hier mal drankommt.«
    »Dann hast du ja noch Glück gehabt«, antwortete er.
    Zwanzig Minuten später sagte er: »Okay. Hier hast du ein Rezept. Hol dir diese Sachen hier und geh sofort nach Hause und leg dich ins Bett. Bleib zwei, drei Tage liegen und ruh dich mindestens eine Woche lang aus. Keine hastigen Bewegungen, keine Aufregung. Okay?«
    Keine hastigen Bewegungen, keine Aufregung? Ich hatte den falschen Beruf gewählt. Ich hätte in einem Blumengeschäft arbeiten sollen.
    »Und noch eins«, fügte er hinzu. »Alkohol? Njet!«
    Bevor ich ging, trat ich kurz vor den Spiegel, um zu sehen, ob dort noch das gleiche Bild hing. Das tat es. Es hatte nur ein wenig seinen Stil verändert: Eine verpflasterte Landschaft. ich verließ den Tatort, das Leben in den Händen. Das Leben ist ein Rezept, von einem unerfahrenen Arzt in einer Ambulanz ausgeschrieben, mit einer Schrift, die kein Mensch lesen kann und die auch niemand lesen können soll. Der Apotheker versucht sein Bestes, wie wir alle.

40
    Ich hatte einen Traum.
    Ein polnisches Mädchen saß aus irgendeinem Grund in meinem Büro, mit einem Gesicht, das wie gemeißelt schien, mit kurzen, dunklen Haaren und Augen, die unnatürlich groß und schwarz wirkten.
    Sie sollte in nur einer Stunde abreisen, aber auf irgendeine Weise wussten wir beide, dass wir einander liebten. Ohne es zu wissen, waren wir zwei Zwillingsseelen, die sich plötzlich gefunden hatten, um sofort wieder auseinander gerissen zu werden. Und ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte.
    »Do you speak English?«, fragte ich, und sie schüttelte lächelnd den Kopf, »Parlez-vous français?« Nein, sie lachte resigniert. Nein, nein, nein. Sie lächelte und lächelte und sprach Polnisch mit klaren, starken Diphtongen und Lauten, die in ihrer Kehle Purzelbäume zu schlagen schienen.
    Und dann brachte ich sie zum Bus. Es war ein großer, grüner Touristenbus, der vor dem Bristol geparkt stand. Auf irgendeine Weise hatte ich ihr einen Brief geschrieben, auf Norwegisch, den ich ihr gab. Ich begriff, dass sie meine Adresse haben wollte und holte einen zerknüllten Zettel aus der Tasche. Sie hatte einen Bleistift, der aber kaum schrieb. Die Spitze war ganz flach, und ich konnte nur mit Mühe meinen Namen und meine Adresse auf den kleinen Zettel ritzen. Es war ein verzweifelter Kampf gegen die Zeit. Und dann musste sie fahren. Und wir küssten uns.
    Als ich aufwachte, blieb ich noch einen Moment liegen und überlegte, wie ich ihre Briefe aus dem Polnischen übersetzen sollte. Ob ich jemanden

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