Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
kannte, der die Sprache beherrschte oder ob ich mir ein Wörterbuch besorgen und es selbst versuchen sollte.
    Ich lag auf dem Bett, auf der Bettdecke. Ich hatte die Schuhe und die Jacke ausgezogen. Hemd und Hose hatte ich noch an. Vor den Fenstern war es hell, und ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen war. Ich musste nachdenken, um mich an meinen Namen zu erinnern. Wenn mich jemand nach meinem Alter gefragt hätte, hätte ich »siebzehn« geantwortet.
    Ich lag ganz still. Aus der Wohnung über mir hörte ich gedämpfte Stimmen. Von draußen in der Gasse klangen Kinderstimmen und vom Stadtzentrum her das ewige Verkehrsrauschen herüber. Ein Schiff tutete irgendwo auf dem Fjord, ein Düsenflugzeug überquerte den Himmel und legte einen Schleier fernen Lärms über die Stadt.
    Ich bewegte vorsichtig den Kopf, sodass ich aus dem Fenster sehen konnte, über die Hausdächer und in den Himmel. Er war grauweiß, mit einer Ahnung von Hellbraun, wie Krepppapier. Mein Kopf fühlte sich an wie eine vergammelte Apfelsine, auf die jemand getreten war.
    Ich hob den linken Arm in die Luft und hielt ihn angewinkelt vor meine Augen. Der Arm war aus Blei, und die Uhr stand still. Das Glas war zerbrochen.
    Ich hob den Kopf und suchte den Wecker. Mein Gesichtsfeld war gespalten, und der Raum schwankte. Ich sank zurück auf das Bett. Als ich die Augen wieder öffnete, war es schon dunkel.
    Die Luft im Zimmer war stickig. Über mir hörte ich tappende Schritte, jemand schaltete den Fernseher ein und tapste weiter durch das Leben. Es war Abend in der Welt, und kleine Jungs schliefen.
    Große Jungs lagen auf dem Bett im Hemd und Hose, mit einem Kopf wie eine zerschnittene Tomate und einem Bauch, der sich fürchterlich hohl anfühlte.
    Ich setzte mich vorsichtig auf. Das Zimmer blieb wogend um mich herum liegen, aber ich behielt den Überblick. Ich stellte die Beine auf den Boden vor dem Bett und stand vorsichtig auf. Ich schaffte es, aufrecht zu bleiben.
    Dann ging ich zum Fenster und öffnete es. Es schlug gegen die Wand, und ich beugte mich weit hinaus. Klare, kalte Abendluft floss an mir hinab, eine Mischung aus Rauch, alten Abgasen und kalten Autos.
    Ich blieb mit den Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt stehen und atmete einfach nur ein und aus. Ich atmete, also war ich. Aber wie spät war es? Und welcher Wochentag?
    Ich ließ das Fenster offen stehen und ging ins Zimmer zurück. Der Wecker behielt das Rätsel der Zeit für sich. Niemand hatte ihn eingeschaltet, die Zeiger standen stramm auf Viertel nach drei.
    Ich ging zum Telefon. Die einzige Nummer, die mir einfiel, war die von Beate. Und von Beates neuem Mann. Ich wählte und hörte es in der Ferne klingeln. Es klingelte fünf Mal, dann antwortete eine Frauenstimme. Sie klang so anders, das konnte nicht …
    »Hallo? Beate?«
    »Hallo? Frau Wiik ist ausgegangen, leider. Ich bin der Babysitter.«
    »Oh, guten Tag. Hier ist Frau Wiiks – Mann.«
    Fragende Stille am anderen Ende.
    »Ich meine – Frau Wiiks früherer Mann.«
    »Ach so«, ertönte es fern und unmenschlich, wie von einem Roboter.
    »Ist Thomas – ist mein Sohn da?«
    »Er schläft.«
    »Ach so. Entschuldigen Sie, aber könnten Sie mir sagen – wie spät es ist?«
    »Wie spät? Es ist halb elf.« Ich konnte ihre Kälte jetzt hören, quer durch das Telefonnetz.
    »Und welcher Tag ist heute?«
    »Welcher Tag?« Lange Pause. »Samstag.«
    »Samstag? Na gut. Ich danke Ihnen.«
    »Oh, nichts zu danken. Auf Wiederhören.«
    »Auf Wiederhören.«
    Ich legte den Hörer auf. »Fröhlichen Samstag, Varg«, sagte ich laut. »Schönes Wochenende.«
    Ich ging in die Küche, schnitt drei trockene Scheiben von einem drei Tage alten Brot ab, schmierte zwei Schichten Butter drauf und kippte Himbeermarmelade über die Brote, die Anrichte und ein Stückchen Fußboden. Ich trank Milch, die nach alter Pappe schmeckte, und aß eine doppelte Dosis der Tabletten, die ich mir am Abend zuvor aus der Apotheke geholt hatte. »Für Kinder unzugänglich aufbewahren«, stand auf der Flasche.
    Dann legte ich mich wieder hin und schlief lang und traumlos bis weit in den Sonntag hinein.
    Es wurde ein langer Sonntag. Mir tat der ganze Körper weh, mein Gesicht erinnerte an eine Requisite aus einem altmodischen Horrorfilm, und ich war nicht in der Lage, etwas Vernünftiges zu tun. Ich versuchte, in Bewegung zu bleiben und lief im Wohnzimmer auf und ab. Eine Weile lief ich mit einer Flasche

Weitere Kostenlose Bücher