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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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wurde zu einem Besuchsraum geführt, der einen Holztisch, ein paar Stühle und eine Wächterin enthielt. Die Wächterin saß auf einem Stuhl direkt an der Tür und tat so, als würde sie nichts hören oder sehen.
    Wenche Andresen ging mit kurzen Schritten, als habe sie ihren Gang schon dem begrenzten Raum, der ihr zur Verfügung stand, angepasst, und ihre Art, sich zu bewegen, strahlte etwas Passives aus, eine plötzliche Trägheit.
    Als sie hereinkam lächelte sie mir matt zu und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten bei der Tür stand. Sie hatte sich verändert. Es war drei Tage her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte. Weitere drei Tage und Nächte, die sie zwischen vier Mauern und hinter einer schweren Stahltür verbracht hatte, beleuchtet durch ein viereckiges Fenster mit mattem Glas.
    Die Tage und Nächte in einer Zelle sind länger als andere Nächte. Sie können wie Jahre sein, und sie können sich wie Jahre im Gemüt niederschlagen. Wenche Andresen sah aus, als habe sie sechs Jahre und nicht drei Tage hinter Gittern verbracht. Ihre Haut hatte schon eine neue Blässe bekommen, kränker und feuchter als die, die sie früher hatte. Die grauen Schatten unter den Augen rührten nicht mehr vom Schlafmangel, sondern von einem unsichtbaren Fieber her, dem, das den matten Augen einen glasigen grauen Glanz verlieh.
    Sie hatte den Fall schon verloren. Vor sechs Jahren.
    Ihre Hände lagen kraftlos und schlaff auf dem Tisch. Ich beugte mich vor und ergriff sie, drückte sie und versuchte, sie wieder zum Leben zu erwecken. Aber sie reagierte nicht. Sie erwiderte den Druck nicht, versuchte nicht, festzuhalten. Ihre Hände lagen wie halb aufgegessene Hefebrötchen zwischen meinen Fingern.
    Ich fragte: »Wie geht es dir, Wenche?«
    Sie antwortete nicht, sondern betrachtete mein Gesicht, und ganz tief in ihren Augen leuchtete etwas auf. »Was – was ist passiert?«, fragte sie.
    Ich ließ ihre eine Hand los und strich mir mit einem fragenden Blick schnell über das Gesicht. »Das hier meinst du?«
    Sie nickte langsam.
    »Eine kleine – Begegnung. Mit Joker und seiner Gang. Ich habe heute noch eine Verabredung mit ihm, ob er will oder nicht.«
    »Du musst – vorsichtig sein«, sagte sie und sah sich um, als wolle sie mir erzählen, dass ich, wenn ich nicht vorsichtig wäre, dort landen würde, wo sie war. Auf der falschen Seite des Tisches, auf der falschen Seite der Mauern.
    Ich sagte: »Ich habe einige – Fragen, Wenche.«
    Sie sah mich an und wartete, dass ich fortfuhr, aber es war nichts Erwartungsvolles in ihrem Blick. Es interessiert sie überhaupt nicht, wonach ich fragen würde.
    Das ließ mich plötzlich überlegen, wie wohl ihre Nächte sein mochten, was für Träume sie hatte. Es mussten anstrengende Träume sein, wenn sie sie seit Freitag so sehr verändert hatten.
    Ich sagte: »Richard Ljosne. Ich habe mit Richard Ljosne gesprochen. Unter anderem über den letzten Dienstag. Dienstag Abend, von dem du mir erzählt hast …«
    Ich beobachtete sie wachsam, ließ sie nicht aus den Augen, aber vorläufig konnte ich keine Reaktion feststellen, absolut nichts.
    Ich fuhr fort: »Er hat mir etwas anderes erzählt als du. Seine Beschreibung des Abends war etwas – anders als deine.«
    Ihr Blick war der eines ausgestopften Tieres oder einer Schlafpuppe. Sie war in einen wachen Dornröschenschlaf gefallen, als befände sie sich in Trance. Vielleicht sollte ich mich vorbeugen und sie küssen …
    »Was ist eigentlich passiert, als ihr nach Hause kamt, Wenche?«
    Nach einer Pause sagte sie tonlos: »Passiert? Ist was passiert? Ich habe dir erzählt, was passiert ist.«
    »Ja? Ja, aber er erzählt etwas anderes. Er hat erzählt – er hat erzählt, dass – dass ihr miteinander geschlafen hättet, Wenche. Du und er, ihr habt miteinander geschlafen! Stimmt’s?«
    Ihre Hände erwachten nicht wieder zum Leben. Sie wurden nur zurückgezogen aus meinem Griff und in Sicherheit, hinter die Tischkante. Sie sagte: »Dann lügt er, Varg. Und wenn du ihm glaubst, seine Lügen glaubst, dann bist du nicht mehr mein Freund.« Sie hätte diese Sätze herausschreien können, aber es klang, als wären wir seit zwanzig Jahren verheiratet, und sie würde mir anvertrauen, dass wir zum Mittag Fischklöße essen würden.
    »Ich bin dein Freund, Wenche! Das weißt du. Und ich glaube ihm nicht, wenn du das Gegenteil sagst. Aber warum? Warum sollte er lügen?«
    Sie zuckte schwach mit den Schultern. »Männer.«
    Sie brauchte nicht mehr zu

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