Dein bis in den Tod
ich mir selbst gesagt: Bist du so weit allein gekommen, kannst du auch den Rest des Wegs allein gehen.« Er blickte sich in seinem Büro um. »Dies ist mein Zuhause«, sagte er und nickte zu dem leeren Kellerlokal hinter mir. »Die da draußen, das sind meine Kinder. Wenn ich denen nur helfen kann, was brauche ich dann noch?«
»Einen Esslöffel Liebe morgens und abends?«, schlug ich vor.
»Liebe – das ist nichts, was man nimmt oder bekommt wie Lebertran. Liebe ist etwas, das du gibst – und dass du jemanden hast, dem du sie geben kannst.«
»Genau«, sagte ich. Und danach sagte ich nichts mehr. Ich hatte nichts Witziges mehr zu sagen, nichts, was einem ängstlichen Nachkriegsindividualisten zu sagen anstand.
Mir blieb nur noch eins: zu gehen.
Ich sagte nicht einmal auf Wiedersehen. Aber ich nehme an, er begriff, warum: Weil ich einen Klumpen im Hals hatte und nicht sicher war, ob meine Stimme tragen würde.
Blind von Tränen fand ich den Weg nach draußen, gegen den Strom der roten Pfeile.
13
Draußen auf der Straße blieb ich eine Weile stehen.
Was tat ich jetzt? Ging mich diese ganze Geschichte überhaupt etwas an?
Ich schaute auf die Uhr. Dann ließ ich den Blick auf dem Block aufwärts gleiten, in dem Wenche Andresen wohnte, zum Balkon in der neunten Etage, Roars Zimmer, dem Küchenfester und ihrer Wohnungstür. In der Küche war Licht.
Ich ging zum Block hinauf, batrat ihn durch den Haupteingang und drückte auf den Fahrstuhlknopf.
Während ich wartete, kam eine Frau herein und stellte sich neben mich. Ich grüßte – vorsichtig –, und sie sah mich erschrocken an, als hätte ich eine obszöne Bewegung gemacht. Vielleicht grüßten die Leute hier draußen nicht, während sie auf den Fahrstuhl warteten oder überhaupt nicht. Ich durfte nicht vergessen, dass dies eine andere Welt war. Dann überwand sie ihren Schrecken und lächelte ein kurzes, verlegenes Lächeln.
Sie war eine recht angenehme Frau. Vor ein, zwei Jahrzehnten war sie sicher einmal schön gewesen. Aber jetzt hatte sie das halbe Jahrhundert hinter sich, und die ersten fünf Jahrzehnte hatten Furchen in ihrem Gesicht eingepflügt. Jemand hatte gesät, jemand hatte geerntet, aber Gott weiß, wer daran verdient hatte. Ihr Haar war einmal schwarz gewesen: Jetzt waren graue Strähnen darin, ziemlich dekorativ, wenn man Zebras mag. Ihre Augen waren braun, aber im Weißen war ein bisschen zu viel Rot und um den Mund lag ein Zug von Bitterkeit, als habe sie gerade einen Campari zu viel gehabt. Sie war nicht besonders groß, aber ob sie schlank oder füllig war, konnte ich nicht sehen, denn sie trug einen flauschigen, dunkelbraunen Pelz, der zwar bessere Zeiten gesehen hatte, aber immer noch eine verfrorene Seele und einen verfrorenen Körper wärmen konnte. Ihre Beine waren schick. Sie musste sie irgendwo unterwegs ausgewechselt haben: Sie konnten kaum älter sein als dreißig Jahre.
Als der Fahrstuhl ankam, öffnete ich ihr die Tür. Diesmal lächelte sie nicht. Es gab schließlich Grenzen.
Der Fahrstuhl war schmal und länglich, wie ein Sarg. Offenbar sollte er Klaviere und Betten und Sofas in die zwölfte Etage transportieren können. Sie ging ganz hinein. Ich blieb an der Tür stehen.
»In welche Etage möchten Sie?«, fragte ich.
»Siebte«, antwortete sie. Ihre Stimme kratzte ein wenig, eine Whiskystimme, zu viele Drinks, zu wenig Schlaf. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Zwischen der vierten und fünften Etage blieb er stehen. Die Deckenbeleuchtung flackerte zweimal, dann kam sie zur Ruhe, wie der Fahrstuhl.
Die Frau neben mir holte tief Atem: »O du lieber Gott, nicht schon wieder!« Sie sah mich an, als sei es meine Schuld. »Er steckt fest.«
Ich sagte: »Ja, das sehe ich.«
Ich konnte zehn, fünfzehn Zentimeter von der Tür im fünften Stock sehen. Der Rest war Beton.
In einem Fahrstuhl festzusitzen ist ein ganz besonderes Erlebnis, das Menschen vorbehalten ist, die in so genannten zivilisierten Ländern leben. Damit sind Länder gemeint, in denen man Häuser baut, die mehr als drei Stockwerke haben. Wenn man in einem Fahrstuhl festsitzt, bleibt die Welt stehen. Ob man fünfzig oder fünfzehn ist, spielt eigentlich keine Rolle. Man fühlt sich in jedem Fall sehr, sehr alt. Draußen kann Krieg herrschen, die Russen oder die Amerikaner oder die Chinesen können gekommen sein. Es kann Stromausfall geben oder ein Erdbeben oder einen Orkan. Menschen können nackt durch die
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