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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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bevor sie mich einwiesen, auf meine eigene Initiative hin.
    Ich lauschte auf die Geräusche aus dem Haus um uns herum. Beton trägt Geräusche in die merkwürdigsten Richtungen. Ich hörte Rauschen in Rohren und etwas, das an Klopfsignale in einem Gefängnis erinnerte, Codes von Zelle zu Zelle. Vielleicht war der ganze Block voller Fahrstühle, in denen Menschen festsaßen, jeweils zu zweit, und keiner kam weiter, und keiner kam und half uns heraus, vielleicht war dies … die Hölle?
    Ich sah wieder auf die Frau hinunter. Die Ewigkeit – mit ihr?
    Der Schweiß lief an mir jetzt in Strömen. Ich war außer Stande, einen einzigen beruhigenden Gedanken zu fassen. Ich versuchte es, dachte an den Sommer, einen weißen, sonnenverbrannten Badestrand, einen offenen blaugrünen See, hohen blauen Himmel – Luft, Luft! – und Menschen, die dänisch sprachen. Ich dachte an Pils, goldenes Pils in hohen, offenen Gläsern mit weißem, frischem Schaum, rot-weiß-karierte Tischtücher, eine offene Veranda, eine Frau. Ich dachte an Beate. Aber das beruhigte mich nicht. Ich dachte an – Wenche Andresen.
    »Hallo!«
    Hallo? Hallo! Erst beim dritten Mal war meine Stimme zu hören: »Hallo!«
    Jemand klopfte an die Tür im vierten Stock. »Ist da jemand? Sitzen Sie fest?« Es war eine grobe Stimme, eine Hausmeisterstimme.
    Ich sagte: »Ja. Wir sitzen fest. Können Sie uns rausholen?« Etwas geschah, und ich hörte auf zu schwitzen. Die Frau neben mir hob den Kopf und lauschte.
    »Ja, das waren wieder diese verdammten Kinder. Eine Sicherung ist rausgesprungen, aber warten Sie, nur fünf bis zehn Minuten, dann ist es wieder in Ordnung.«
    »Danke«, flüsterte ich den schweren Schritten zu, die sich entfernten.
    Dann verging eine weitere Viertelstunde. Die Frau und ich hatten keine gemeinsamen Interessen, über die wir uns hätten unterhalten können. Nur hier rauszukommen. Ich sah auf die Uhr. Konnte sie zu Hause sein?
    Dann, ohne Vorwarnung, setzte sich der Fahrstuhl plötzlich wieder in Bewegung. Vierter Stock, fünfter, sechster. Dort hielt er an.
    Die Frau war schon aufgestanden, hatte sich schnell das Haar glatt gestrichen und fächelte sich mit einem kleinen Spitzentaschentuch Luft zu. Ihre Augen waren rot gerändert, aber das machte keinen großen Unterschied. Sie sah ungefähr so aus, wie vorher, als sie den Fahrstuhl betrat: vielleicht ein paar Jahre älter, aber das tat ich wohl auch. Das passiert, wenn man eine Weile in einem Fahrstuhl festsitzt. Man reift so schnell. Und ab und zu fällt man herunter.
    Ehe sie mich verließ, nahm sie plötzlich meine Hand. »Solfrid Brede«, sagte sie mit ihrer schnarrenden Stimme.
    »Ach … ja«, sagte ich.
    Dann war sie verschwunden, und ich fuhr mit dem Fahrstuhl zwei weitere Stockwerke hinauf. Hallo und auf Wiedersehen, Solfrid Brede. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, in einem anderen Fahrstuhl, in der Hölle oder anderswo? Man kann nie wissen, Solfrid Brede, man kann nie wissen.
    Ich öffnete die Fahrstuhltür und stieg aus.
    Vor der Tür stand Wenche Andresen und wartete. Sie war nicht allein, neben ihr stand ein Mann.

14
    Er war groß und kräftig, athletisch gebaut, ungefähr Ende vierzig oder Anfang fünfzig. Sein Gesicht zeigte sehnige und zähe Züge, die davon zeugten, dass er schon einige Jahre hatte vorbeiziehen sehen. Aber seine Augen tief in den Höhlen waren dunkel und wach, zum Teil verdeckt von buschigen, grauschwarzen Augenbrauen. Was ich von seinem Haar erkennen konnte, hatte denselben grauschwarzen Ton, und zusammen mit seiner leicht angespannten Haltung verlieh es ihm das Aussehen eines Wolfes. Er trug eine Marineuniform – Oberleutnant zur See. Und er sah aus, als erwarte er, dass ich bei seinem Anblick sofort Haltung annähme.
    Wenche Andresen wirkte leicht verwirrt. Sie sagte: »Va … Veum?« Dann wanderte ihr Blick von mir zum Wolfsmann und wieder zurück.
    Ich sagte: »Ich wollte nur vorbeischauen, um zu hören, wie es – Roar geht.«
    Sie sagte: »Oh, ihm geht’s gut, aber – ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Dies ist mein – Chef, Oberleutnant …« Sie murmelte undeutlich seinen Namen.
    Er wiederholte ihn selbst, mit Betonung auf jeder Silbe, als spreche er mit einem einfältigen Gast. »Richard Ljosne«, sagte er und ergriff mit starken, muskulösen Fingern meine Hand.
    »Veum«, sagte ich.
    Dann wurde es still. Wenche Andresen wirkte noch immer verwirrt. Sie hatte dunkle Halbmonde unter den Augen und war sehr blass. Sie sagte: »Ich – fühle

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