Dein bis in den Tod
mich nicht wohl, deshalb habe ich angerufen und gesagt, dass ich heute später komme – ins Büro, und dann sagte Richard – Ljosne – dass er kommen könnte und mich abholen, weil …«
»Wir haben einige wichtige Papiere, die heute noch rausmüssen, und Wenche ist die Einzige, die sich damit auskennt. Ohne sie hätten wir eine Aushilfe bestellen müssen, und es hätte Stunden gedauert, ihr zu erklären …«
Seine Stimme war tief und sonor, eine Stimme, in die ich mich hätte verlieben können, wenn ich zehn Jahre jünger und – eine Frau gewesen wäre. Aber ich war keines von beiden, und Wenche Andresen war noch immer verwirrt.
Ich betrachtete ihren Mund und dachte an den vergangenen Abend, daran wie es gewesen war, ihren Mund zu spüren – federleicht auf dem meinen.
Ich betrachtete den Mund von Richard Ljosne. Sein Mund war groß und breit, mit schmalen, roten Lippen und gelbweißen, scharfen Zähnen. Sein Kinn schimmerte blaugrau, und er hatte lockige Haare oben am Hals und bis in den Nacken. Seine Augenbrauen wuchsen über der Nase zusammen.
Ich sagte: »Tja, dann will ich euch nicht aufhalten. Ich wollte nur hören, wie es – wie gesagt …« Dann fügte ich hinzu: »Übrigens, dieser Joker, wo wohnt er?«
Wenche Andresen wies mit dem Blick zum Block nebenan. »Da drüben. Er wohnt zusammen mit seiner Mutter.«
Ich nickte. »Tja. Danke.« Ich hielt ihnen die Fahrstuhltür auf.
Sie gingen an mir vorbei hinein. Als ich die Tür hinter ihnen schließen wollte, fragte sie: »Aber – willst du denn nicht wieder nach unten – Veum?«
Ich antwortete: »Nein danke. Ich nehme die Treppe.«
Dann ließ ich die Tür los, und sie glitt langsam hinter ihnen zu.
Ich dachte noch immer an ihren Mund und war mir nicht sicher, ob das ein angenehmer Gedanke war, um ihn mit sich herumzutragen. Nicht heute, nicht jetzt.
Ich trat auf den Balkon und ging in die entgegengesetzte Richtung, zum Treppenhaus am Südende des Blocks. Vom Balkon aus sah ich Wenche Andresen und Richard Ljosne den Block verlassen und zu einem großen schwarzen Wagen gehen, der aussah wie ein Mercedes. Jedenfalls vom achten Stock aus.
Ich dachte: So könnten sie aus meinem Leben gehen, in einen Wagen steigen und verschwinden.
Aber ich hatte das nicht ganz angenehme Gefühl, dass es nicht so sein würde, dass ich sie beide wieder sehen würde, und ich vermutete, dass es kein besonders nettes Wiedersehen würde – für keinen von uns.
Ich ging langsam die Treppen hinunter und fragte mich, was ich nun tun sollte.
15
Ich hatte die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: zurück ins Büro zu fahren oder etwas Vernünftiges zu tun. Jedenfalls etwas, das aussah, als könne es vernünftig sein. Das Büro würde kaum leiden, wenn ich nicht sofort dorthin zurückkehrte, und das einzige, was mit dem Telefon geschehen konnte, war, dass jemand es abholte, weil ich die Rechnung nicht bezahlt hatte. In dem Fall war es allerdings vielleicht am besten, wenn ich nicht da wäre.
Wenche Andresen hatte mir erzählt, dass Joker mit seiner Mutter im Block nebenan wohnte, und Gunnar Våge hatte mir erzählt, dass Joker eigentlich Johan Pedersen hieß. Ich konnte ja vorbeischauen und sehen, ob er zu Hause war. Ich könnte ihm einen Kurs in Rosenmalerei empfehlen, um seine Freizeitprobleme zu lösen, oder vielleicht ein Abendseminar zur Geschichte des pikaresken Romans. In unserer modernen Ausbildungsgesellschaft gab es viele Möglichkeiten. Wenn man etwas nicht kann, kann man es lernen und es kostet nicht viel. In einem zehnstündigen Kurs bei der Volkshochschule kann man lernen, eine Hardangertracht zu nähen, oder einen Taschencomputer zu bedienen. Oder zu malen (fast so gut wie Munch), oder spanisch zu sprechen (für die nächste Reise auf die Kanarischen Inseln, um dort mit Schweden zu sprechen), oder fehlerfrei zu fotografieren (Schwiegermutter im Gegenlicht und schreiende Kinder). Also gab es viel, worauf sich Joker freuen konnte, wenn er nur willens war. Und wenn er zu Hause war.
Im Treppenhaus fand ich einen Briefkasten mit dem Namen H. Pedersen. 3. Stock, stand auch dort, aber ich nahm nicht den Fahrstuhl. Ich betrat das Treppenhaus und stapfte nach oben. Gott sei Dank wohnten sie nicht ganz oben. Wenn das hier so weiterging, konnte ich mir die wöchentliche Joggingrunde im Isdal sparen.
Hildur und Johan Pedersen, Mutter und Sohn, wohnten gleich in der ersten Wohnung, wenn man aus dem Fahrstuhl kam. Die Namen standen an der Tür. Ich warf einen Blick
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