Dein Blick so kalt
als Julian sich hinter sie stellte und ihr über die Schulter sah. Er beobachtete, wie sie mit Airbrush einige Flecken entfernte. Plötzlich war Lou aufgeregt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Hand auf der Maus fühlte sich zittrig an. Jetzt nur nichts falsch machen.
»Du machst das sehr gut.« Julian legte seine Hand auf ihre Schulter. Lou war das unangenehm. Er wies sie auf einen Schatten hin, der seiner Meinung nach zu dunkel war, und bat sie, den aufzuhellen.
»Kein Problem. Mache ich.«
Endlich nahm er seine Hand weg. Lou hob den Kopf, atmete erleichtert durch und begegnete prompt Sylkes wütendem Blick.
16
Als Lou abends nach Hause kam, lief ihr vorm Haus der Prinzipienreiter über den Weg. Sie kettete gerade das Rad an den Ständer, als sie hinter sich knirschende Schritte auf dem Kiesweg hörte und sich umdrehte. Wieder trug er Anzug und Krawatte und doch sah es nicht so aus, als ob er von der Arbeit käme, denn er hatte keine Aktentasche oder so etwas Ähnliches bei sich. Er nickte ihr freundlich zu, murmelte einen Gruß, den sie ungern aber höflicherweise erwiderte, und hielt die Haustür für sie auf. Ein merkwürdiger Geruch ging von ihm aus. Irgendwie nach Kräutern oder Apotheke oder so. Jedenfalls seltsam. Da er auf den Lift zusteuerte, entschloss sie sich, die Treppe zu nehmen. Sie hatte keine Lust, mit ihm in dieser engen Kabine zu stehen, sich von oben bis unten mustern zu lassen und sich Vorträge über das Funktionieren von Hausgemeinschaften anzuhören.
Etwas atemlos kam sie in der dritten Etage an und traf Onkel Achim, der vor ihrer Tür stand und klingelte. »Hallo Louischen. Nachdem du dich nicht mehr bei mir gemeldet hast, wollte ich mal nachsehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«
Louischen. Offenbar wollte er echt einen auf Babysitter machen, wie Tante Ute gesagt hatte. Oder Mam hatte ihn als Kontrolletti engagiert. In Gedanken rollte Lou die Augen. Einen Aufpasser brauchte sie nicht. Echt nicht. »Ist alles im grünen Bereich. Wenn es Probleme gibt, dann melde ich mich schon.« Sie zog den Schlüsselbund aus der Patchworktasche und warf Onkel Achim einen abwartenden Blick zu. Wollte er etwa mit rein? Er lächelte. »Wie war der erste Tag in der Agentur?«
»Ganz gut. Lauter nette Leute und ich durfte Bilder für einen Katalog bearbeiten. Es läuft wirklich alles super. Ich muss nur dringend aufs Klo.« Während sie das sagte, trat sie von einem Bein aufs andere, um die Dringlichkeit des Anliegens zu unterstreichen. Sie hatte echt keine Lust, sich weiter von Onkel Achim ausfragen zu lassen. Offenbar durchschaute er das Manöver, denn er lächelte und verabschiedete sich.
Kaum hatte Lou ihre Tasche aufs Bett geworfen und auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was sie zu Abend essen sollte, den Kühlschrank inspiziert, klingelte es an der Wohnungstür. Hoffentlich nicht schon wieder Onkel Achim. Doch wer sollte es sonst sein?
Sie sah durch den Spion. Ein schwammiger Kerl mit reichlich Pickeln im Gesicht stand vor der Tür. Was wollte der denn? »Ja? Was gibt es?«
»Ich bin der Ben. Ben Pagel. Ich soll den Brauseschlauch auswechseln.« Zur Bestätigung hob er den Schlauch vor den Spion.
Ach so. Sie öffnete die Tür. »Hallo.« Auf den zweiten Blick war er älter, als sie gedacht hatte. Sicher schon Anfang dreißig. Und er wohnte noch bei seiner Mutter? Schon komisch. Alles an ihm wirkte schwammig und teigig. Strohblonde Haare, blasser Teint und sogar die Wimpern waren beinahe weiß. Er hatte das farblose Aussehen eines Grottenolms. Vermutlich ein richtiger Nerd, der Tag und Nacht hinter dem Computer hing. Wenn sie ehrlich war, fand sie ihn ein wenig gruslig.
In der einen Hand trug er den Brauseschlauch, in der anderen einen riesigen Werkzeugkasten. So konnte er ihr wenigstens nicht die Hand geben. Er nickte kurz, wich ihrem Blick aus und deutete aufs Bad. »Ich mach mich dann mal an die Arbeit.« Offenbar redete er nicht viel und das war Lou gerade recht. Sie ging in die Küche zurück, während er an der Dusche schraubte. Seit dem Käsebrot heute Mittag, hatte sie nichts gegessen. Ihr war fast schlecht vor Hunger, doch der Kühlschrank war beinahe leer. Nur noch ein Becher Kefir stand darin. Sie verputzte ihn im Stehen und entschloss sich, einkaufen zu gehen. Der nächste Discounter war mit dem Rad in zehn Minuten zu erreichen. Es war schon kurz nach sieben. Die Läden hatten bis acht auf. Sie ging ins Bad, um nachzusehen, wie weit Ben Pagel war. Als sie
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