Dein Blick so kalt
sie mal wieder etwas einkaufen. Mit dem Quark setzte sie sich auf den Balkon und starrte in den Abendhimmel. Als sie den letzten Rest aus dem Becher kratzte und den Löffel ableckte, hatte sie plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie fuhr herum. Doch da war natürlich niemand. Wie auch? Die Wohnungstür war zu. Sie stand auf, um den leeren Becher in den Müll zu werfen, und bemerkte dabei Ben Pagel. Er stand unten auf dem Platz vor dem Haus und unterhielt sich mit dem Prinzipienreiter. Den Kerl fand Lou nicht weniger gruslig als den Sohn der Hausmeisterin. Ständig lief er ihr wie zufällig über den Weg. Wenn sie morgens das Haus verließ und wenn sie von der Agentur zurückkam. Neulich hatte er sich noch schnell zu ihr in den Lift gezwängt, als sie vom Supermarkt gekommen war. Er grüßte sie immer freundlich, machte ein paar harmlose Bemerkungen übers Wetter oder ähnliche Belanglosigkeiten und dennoch fühlte Lou sich in seiner Gegenwart unwohl. Seine Augen waren klein und wieselflink. Sie schienen in Sekundenbruchteilen alles zu erfassen und zu sortieren. Ein visueller Buchhalter. Und nun stand er da Seite an Seite mit dem bleichen Grottenolm und starrte zu ihr nach oben. Sie spürte seine Blicke wie tastende Finger. Ein kalter Schauer durchlief sie. Eilig wandte sie sich ab und ging hinein.
An einem so schönen Abend wollte sie nicht in der Wohnung abhängen. Den beiden seltsamen Typen wollte sie allerdings auch nicht über den Weg laufen. Deshalb fuhr sie mit dem Lift bis in die Tiefgarage und verließ durch die Zufahrt das Haus. Ihr Rad stand im Ständer neben der Eingangstür. Sie umrundete das Gebäude und näherte sich dem Radständer in der Hoffnung, dass die beiden sie nicht bemerkten. Doch der Grottenolm und der Prinzipienreiter waren verschwunden. Sie hätte sich den Aufwand sparen können.
Mit dem Rad fuhr sie durch den Englischen Garten. Auf der Wiese unterhalb des Monopteros machte sie Pause und legte sich ins Gras. Über den Himmel zogen Schäfchenwolken. Auf den Wegen waren Fußgänger, Radler und Jogger unterwegs. Um sie herum wurde gepicknickt, geraucht, geratscht, geknutscht, Ball gespielt und Stöckchen geworfen. Zwischen zwei Bäumen hatte ein Junge eine Slackline gespannt, auf der er geschickt balancierte. Lou beobachtete ihn, bis sie mit zwei Mädchen aus Holland ins Gespräch kam, die per Interrail durch Europa fuhren. Sie vergaß Julian und den Prinzipienreiter, ebenso den Grottenolm und den Streit mit Sylke. München war einfach eine tolle Stadt. Erst als es kühler wurde und die Nacht sich herabsenkte, radelte Lou heim. Diesmal begegnete ihr niemand. Weder auf dem Vorplatz, noch im Lift.
Sie lag schon im Bett, als ihr einfiel, dass sie ihre Mails noch nicht gecheckt hatte. Also holte sie ihren Laptop, fuhr ihn hoch und hatte Glück: das freie WLAN war zugänglich. Und eine Mail von Caro in ihrem Postfach. Offenbar war sie doch nicht total offline in den Bergen. Especially for you. So lautete der Betreff. In der Mail selbst war nur ein Youtube-Link. Neugierig klickte Lou darauf. Ein Video-Fenster öffnete sich. Weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund. Especially for Lou. Was Caro sich da wohl ausgedacht hatte? Der Film startete. Die Schrift verschwand. Aus dem Schwarz schälte sich langsam ein bleicher Totenschädel. Leere Augenhöhlen, ein klaffender Kiefer. Erst jetzt bemerkte Lou die Musik, die stetig lauter wurde. Elektronisch, hoch, hart, metallisch, wie Eiswind. Zwei Hände griffen nach dem Schädel. Es sah aus, als hielte er sich vor Entsetzen die Ohren zu. Die Kamera raste auf die Mundhöhle zu, fuhr in sie hinein. Dunkelheit verschlang alles. Der Sound wurde schrill und spitz. Ein Ton wie ein langer gequälter Schrei. Lou fuhr zusammen. Angst setzte sich hinter ihr Brustbein. Die Musik brach ab. Ich bin bei dir. Immer und überall, flüsterte eine Stimme. Heiser. Rau.
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Er sah ihr direkt in die Augen. Nicht nur, als sie den Film startete, sondern auch, als seine Stimme erklang. Ich bin bei dir. Immer und überall. Pupille an Pupille, scheinbar nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Und sie hatte keine Ahnung. Ein köstliches Gefühl von Macht durchströmte ihn. Er konnte ihre Angst sehen, sie beinahe riechen, eine säuerliche Note, ein wenig gallig wie das Amygdalin der Bittermandel.
Er wollte dieses Gefühl auskosten, das ihm viel zu selten gegönnt war. Diese Augenblicke, in denen nichts als Ruhe ihn erfüllte. Satte Ruhe. Weiche, dicke Kissen von
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