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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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ist die Bewegung, die am meisten beeindruckt. Wie die leuchtenden blassgrünen Wellen über den Himmel rollen und sich brechen und kräuseln – und verschwinden und woanders wieder erscheinen –, und das alles in gespenstischer Stille. Ein Lichtermeer. Ich weiß, für manche Menschen ist es ein religiöses Erlebnis, aber ich fand es einschüchternd. Die großen, schimmernden Wellen … so riesenhaft, so fern. Vollkommen losgelöst von dem, was darunter liegt. Und auf eigenartige Weise scheint das außergewöhnliche Licht die dahinter liegende Dunkelheit noch zu verstärken.
    Algie brach den Bann mit Pfeifen, und ausnahmsweise störte es mich nicht.
    Gus meinte leise: «Da bleibt man schwerlich unbewegt, nicht?»
    Ich grunzte.
    Er hackte mit dem Absatz auf den Schnee ein. «Ich habe irgendwo gelesen, dass die Eskimos glauben, Nordlichter sind die Fackeln der Toten, die den Lebenden den Weg erleuchten.» Er zögerte. «Sie sagen, wenn man pfeift, kommen die Seelen der Toten näher.»
    Ich warf ihm einen scharfen Blick zu, aber er schaute auf seine Stiefel.
    «Glaubst du an so etwas, Jack?» Seine Miene war ernst. Der Reif in seinem Bart glitzerte im Lichtschein.
    «Glauben, woran?», fragte ich bedächtig. «An fackelnschwenkende Seelen?»
    «Nein, natürlich nicht. Ich meine … unsichtbare Kräfte. Etwas in der Art.» Verlegen hackte er wieder auf den Schnee ein.
    Ich konnte mir denken, was er mit «etwas in der Art» meinte, aber ich wollte nicht darüber sprechen, nicht im Dunkel, daher gab ich vor, ihn nicht zu verstehen. «Ich glaube an den Wind», sagte ich. «Das ist eine unsichtbare Kraft. Und Radiowellen.»
    Er schwieg einen Augenblick. Dann lachte er prustend. «Nun gut. Dann gib eben weiter den nüchternen Wissenschaftler.»
    «Das bin ich gar nicht», widersprach ich. Um es zu beweisen, erzählte ich ihm, was ich in den Zeitschriften des Professors gelesen hatte.
    Ich muss enthusiastisch geklungen haben; denn er kräuselte die Lippen. «Und du beneidest sie, nicht wahr, Jack?»
    «Wen?»
    «Die Physiker in ihren Laboratorien. Du möchtest selbst gerne derjenige sein, der sich verrückte Theorien über das Universum ausdenkt.»
    Jetzt war es an mir, verlegen zu sein. Und geschmeichelt, dass er mich so gut kennt. Er hat ja recht, ich bin neidisch. Ich sollte auch derjenige sein, der sich in einem Physik-Labor irrsinnige Ideen einfallen lässt.
    Und vielleicht könnte ich es am Ende gar. Wenn wir wieder in England sind, finde ich vielleicht einen Weg, mein Studium fortzusetzen. Gus meint, dass ich es kann. Das ist immerhin von einigem Gewicht.
    Während ich nun hier sitze und schreibe, breche ich immer wieder ab, um mir auszumalen, welche Erkenntnisse ich in Gruhuken gewinnen und wie ich bei meiner Rückkehr die Welt in Erstaunen setzen werde.
    Wie sich die Dinge wandeln können! Als wir hier ankamen, war ich hochgradig nervös. Die ganze Grübelei über «die große Stille» und das Erschrecken über einen Seemann in einem Schafsfellmantel. Doch nun, da Gruhuken wirklich uns gehört, bin ich nicht mehr nervös.
    1. Oktober
    Ich halte das nicht aus, er ist unerträglich. Ich weiß, die Hunde brauchen frisches Fleisch, und das bedeutet, ein paar Robben zu schießen. Aber Himmelherrgott.
    Gestern bin ich mit ihm im Kanu gefahren, ich hatte Glück und habe eine Robbe geschossen. Wir sind gepaddelt wie die Teufel, haben sie ins Boot gezogen, bevor sie unterging, und sie dann an Land geschleppt. Die Hunde an ihren Pfosten waren wie rasend. Gus kam angelaufen, um beim Zerlegen des Kadavers zu helfen.
    Algie war der Oberschlachter; denn nach sechs Wochen in Grönland ist er natürlich der Experte. Also macht er sich daran, das Tier zu häuten – oder soll ich sagen «flensen» –, mit seinem widerlichen großen «Flensmesser» (warum kann er es nicht einfach Messer nennen?). Aber als er den Bauch aufschlitzt, zittert das Tier. Die Gedärme spritzen heraus, das Blut tränkt den Schnee, der warme Kupfergeruch fängt sich in meiner Kehle, doch die Augen sind groß und sanft – und lebendig .
    «Herrgott, es ist nicht tot!», krächze ich und suche nach einem Stein, um es zu erlösen. Gus ist bleich geworden und tastet nach seinem Messer. Algie häutet seelenruhig weiter. Erst als er an die Stelle über dem Herzen kommt, sticht er das Messer hinein und macht ein Ende.
    Warum? Um uns zu zeigen, was er für ein harter Kerl ist? Oder weil er diesen Ort hasst und sich so an ihm rächt?
    Ich habe ihm gesagt, er macht

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