Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
ab. «Gus, ich denke, sie sind bloß hungrig.»
Er verzog den Mund. «Tja, da müssen sie wohl noch ein paar Stunden warten. Kommst du mit hinein?»
«Gleich.» Ich hatte noch Zeit, bis ich die Ergebnisse der Ablesungen übermitteln musste. Ich wollte nichts von dem karmesinroten Schimmer verpassen.
Während ich dem schwindenden Knirschen von Gus’ Stiefeln lauschte, sah ich zu, wie der Schimmer hinter den Klippen verblasste wie erkaltende Glutasche. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber es war noch genug Licht da, um etwas zu sehen. Kein Wind. Die Hunde hatten aufgehört zu heulen.
Schlagartig war mir angst und bange, ganz ohne Grund. Ich war nicht bloß angespannt. Das war tiefe, instinktive, zermalmende Furcht. Meine Haut kribbelte. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Mein Körper wusste früher als ich, dass ich nicht alleine war.
Dreißig Meter entfernt bewegte sich etwas auf dem Felsen.
Ich wollte schreien. Die Zunge blieb mir am Gaumendach kleben.
Es kauerte an der Felsenkante. Es war triefnass. Es hatte sich soeben aus der See gehievt. Und dennoch herrschte tiefste Stille. Kein Platschen von Wassertropfen auf Schnee. Kein Knirschen von Ölzeug, als es sich erhob. Langsam. Schwerfällig.
Es stand. Mit dem Gesicht zu mir. Dunkel, dunkel vor der See. Ich sah seine Arme seitlich herabhängen. Ich sah, dass eine Schulter höher war als die andere. Ich sah seinen nassen runden Kopf.
Ich wusste sogleich, dass das kein Pelztierjäger aus einem nahegelegenen Lager war und auch keine arktische Spiegelung oder «Augentäuschung», wie es so oft heißt. Das Gehirn liefert keine Erklärungen, die nicht den Tatsachen entsprechen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu verwerfen. Ich wusste, was es war. Ich wusste , ein uralter Teil von mir wusste, das war kein lebendiges Wesen.
Hinter mir ging die Hüttentüre knarzend auf. Gelbes Licht ergoss sich auf den Schnee.
«Jack?», rief Gus. «Es ist gleich halb eins. Die Übermittlung …»
Ich wollte ihm antworten. Ich konnte es nicht.
Der Felsen war leer. Es war fort.
Ich stand da, atmete durch den Mund. Ich stotterte eine Antwort, sagte zu Gus, alles in Ordnung, ich komme gleich.
Er schloss die Türe, das Licht entschwand.
Noch nie hatte ich ein derartiges Widerstreben gefühlt wie in diesem Moment, aber ich raffte mich auf – ich zwang mich, meine Taschenlampe hervorzuholen und den Strand entlang zu den Felsen zu gehen.
Der Harschschnee war unter meinen Stiefeln brüchig wie Glas. Unberührt. Keine Fußspuren. Keine Anzeichen eines Mannes, der sich aus der See erhoben hat. Ich hatte gewusst, dass da nichts sein würde. Aber ich musste es selbst sehen.
Ich stand da, die Hände an den Seiten, hörte das Platschen der Wellen und das Knacken von Eis.
Die Furcht war geschwunden, geblieben war Wirrnis. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Es kann nicht sein. Aber ich habe es gesehen. Es kann nicht sein. Aber ich habe es gesehen.
Und ich weiß, wenngleich ich nicht sagen kann, woher ich es weiß, dass das, was ich auf dem Felsen gesehen habe, dieselbe Gestalt war, die ich vor zwei Monaten beim ersten Dunkel am Bärenpfosten sah.
Es existiert wirklich. Ich habe es gesehen.
Es ist nicht lebendig.
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8
17. Oktober
Den ganzen Tag lang habe ich versucht, mir dieses Erlebnis zu erklären. Was habe ich gesehen? Soll ich es den anderen sagen?
Als ich wieder in die Hütte kam, war es 12 Uhr 29, und ich musste mich mit den Übermittlungen sputen. Ich war zwei Personen zugleich. Zum einen ein Funker, der in die Pedale des Fahrradgenerators trat; das Klemmbrett in der linken Hand, während er mit der rechten die Taste betätigte. Zum anderen ein Mann, der soeben gesehen hatte, wie ein Geist der See entstiegen war.
Ich kann mich nicht erinnern, was ich danach getan habe. Ich weiß aber, dass ich mich in der Hütte umsah. Der orangefarbene Schein der Lampe, die Socken und Geschirrtücher auf der Leine über dem Ofen. Gus und Algie, wie sie sich Haferkekse mit Zuckersirup schmecken ließen. Ich fühlte mich nicht dazugehörig. Sie waren auf der einen Seite, ich auf der anderen. Ich dachte, wie kann all dies in ein und derselben Welt existieren wie das ?
Irgendwie habe ich den restlichen Tag überstanden. Und habe seltsamerweise geschlafen wie ein Murmeltier.
Heute war Algie mit Ablesen an der Reihe, Gott sei Dank. Ich hatte Küchendienst. Ich klammerte mich daran wie ein Ertrinkender an einen
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