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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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zu machen, ich weiß.
    Aber denke stets daran, Jack, es ist nur ein Echo. Das ist wie ein Fußabdruck oder ein Schatten. Es kann dir nichts anhaben. Es kann dich lediglich erschrecken.

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    9
    23. Oktober
    Nun, den ersten Tag habe ich überstanden.
    Routine heißt das Zauberwort. Ablesungen früh um sieben, zu Mittag und um fünf Uhr nachmittags; die Übermittlungen immer eine halbe Stunde darauf. Ich habe die Hunde mitgenommen und bis jetzt gab es keine Probleme – außer dass ich sie wieder einfangen musste. Eine Handvoll Süßes wirkt da Wunder: Rumkugeln und Dörrobst. Die Karamellbonbons sind nur für Isaak.
    Während ich so vor mich hin arbeite, koche, funke, Holz hacke, die Hunde füttere, fühle ich mich eigenartig verunsichert. «Nun», sage ich laut zu mir, «was gibt’s heute wohl zum Frühstück? Rührei? Und was zum Abendessen? Also gut, dann eben Curry!»
    Außerdem merke ich, dass ich mich selbst mit «wir» anspreche. Ich sage nicht «ich» oder «du» oder «Jack». Ich sträube mich dagegen, mir meine Einsamkeit laut einzugestehen.
    Es ist ein neues Gefühl, meine Habseligkeiten in der ganzen Hütte auszubreiten und zu essen, wonach mir der Sinn steht. Gestern habe ich mir ein herzhaftes Gericht ausgedacht, Zwiebeln und Fleischpudding aus der Büchse mit Kartoffeln und Käse in der Pfanne gebraten. Ich kümmere mich darum, dass der Ofen immer gut geschürt ist, die Lampendochte gestutzt sind und das Wasserfass voll ist. Ich halte mich an das provisorische System, das wir erfunden haben: Das Fass mit Schnee füllen, kochendes Wasser aus dem Kessel aufgießen, Kessel mit Schnee auffüllen, zum Schmelzen auf den Ofen stellen. Was ich auch tue, ich tue es ohne Unterbrechungen. Ich mag die Stille nicht, die eintritt, wenn ich innehalte.
    Das Schlimmste am Alleinsein ist, dass ich, wenn ich mit den Hunden zur Wetterhütte gehe, den Ofen nicht anlassen und in der Hütte keine einzige Lampe brennen lassen darf, aus Angst vor Feuer. Diese Regel ist sogar noch lebenswichtiger als die mit den Türen. Das bedeutet, ich komme in eine kalte, stille, dunkle Hütte zurück. Wenn ich darauf zugehe, versuche ich, nicht zu den schwarzen, blinden Fenstern hinzusehen. Wenn ich über die Veranda gehe, klingt mein Schritt zu laut und mein Atem wie der eines anderen. Ich kann den Augenblick nicht leiden, wo ich die Türe hinter mir schließe und in den langen, dunklen Flur gesperrt bin. Im Strahl meiner Taschenlampe springen mir die Dinge aus den Schatten entgegen. Das Ölzeug auf den Haken sieht aus wie – jedenfalls nicht wie leere Kleidungsstücke.
    Im Hauptraum herrscht Eiseskälte. Es riecht nach kaltem Rauch und Paraffin. Und es ist so still.
    Ein schmaler Streifen Mond ist noch zu sehen, doch bald wird er ganz verschwunden sein. Ich werde eine Sturmlaterne an das Geweih auf der Veranda hängen.
    Gestern Abend habe ich es mit dem Grammophon versucht und dann mit dem Radio, doch die körperlosen Stimmen haben mich noch einsamer gemacht. Also habe ich mich stattdessen hingesetzt und gelesen, beim Zischen der Lampen, dem Knistern des Ofens und dem Ticken von Gus’ Reisewecker. Er ist aus olivgrünem Kalbsleder, liegt glatt und kühl in der Hand und hat ein in Gold gefasstes, wunderbar schlichtes Ziffernblatt. Ich behalte ihn stets in meiner Nähe.
    Ich vermisse Gus mehr, als ich in meinem Leben jemals einen Menschen vermisst habe. Seltsam. Als Vater starb, war ich zehn, und obwohl ich ihn geliebt habe, habe ich bald aufgehört, ihn zu vermissen; vielleicht weil er so viele Jahre krank gewesen war und ich schon zu seinen Lebzeiten um ihn trauerte. Bei Mutter dasselbe. Sie war abgekämpft, sie wollte gehen. Und so habe ich keinen von beiden lange vermisst. Kein Vergleich zu dem, was ich jetzt empfinde. Zu diesem wilden Schmerz, der sich in mir regte, sobald Gus fort war.
    Fühlt es sich so an, einen Bruder zu haben? Oder einen besten Freund? Es ist verwirrend. Ich weiß selbst nicht recht, was ich meine. Und ich hasse Algie dafür, dass er bei ihm ist und ich nicht.
    Ich schreibe dies um acht Uhr abends. Ich sitze mit einem Glas Whisky im gleißenden Licht von drei Lampen am Tisch. Für jeden, der draußen auf dem Plankenweg stünde und hereinsähe, wäre ich deutlich sichtbar. Natürlich sieht niemand herein. Aber ich mag das Gefühl nicht. Und ich mag die dunklen Fensterscheiben nicht, die ich sehe, sobald ich den Blick hebe. Ich wünschte, ich könnte sie verdecken, die Nacht davon abhalten, zu

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