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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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mich bloß fürchterlich erschreckt. Dämlich, dämlich. Ich muss wirklich aufpassen. Ein Unfall hier draußen wäre kein Spaß.
    Wieder ein stiller Tag, sehr bedeckt, und deshalb ohne Zwielicht. Sechs Uhr dreißig «morgens», ich lasse gerade die Hunde heraus, als es anfängt zu schneien. Leise, heimtückisch, die Welt versenkend. Keine See, keine Berge, kein Himmel. Die Hunde tauchen aus dem Grau auf und verschwinden wieder wie – na ja, wie Schatten eben. Gepriesen sei Eriksson, der uns dazu überredet hat, die Führungsseile zu spannen.
    Aber die verflixte Wetterhütte. Die Lüftungslamellen sollen die Instrumente vor der Sonne schützen, aber da es keine Sonne gibt, vereisen sie in einem fort, und ich muss die Wetterhütte drei Mal täglich vom Frost befreien. Und das lässt sich nur bewerkstelligen, indem ich mit dem Messer daran herumschabe, was verflucht scheußlich ist, zum einen, weil ich Schneeschuhe trage, die mir das Bücken schwermachen, und zum anderen, weil ich gegen die abgesprengten Eisklumpen ständig die Augen zukneifen muss, während die Stirnlampe verwirrende Lichtstrahlen in die Finsternis schickt. Ich sehne mich nach dem Geräusch der knirschenden Schritte von Gus, der im Schnee auf mich zuläuft. Teufel noch eins, ich würde mich sogar mit dem «All By Yourself in the Moonlight» pfeifenden Algie zufriedengeben.
    Es passierte unmittelbar nach der Fünf-Uhr-Ablesung. Die Hunde waren verschwunden, irgendwohin, aber ich wusste, dass sie nicht weit sein konnten, weil es bis zur Fütterung nicht einmal mehr eine Stunde war. Es schneite heftig, und ein leichter, andauernder Wind ließ die Flocken wirbeln.
    Ich war mit meiner Arbeit an der Wetterhütte fertig geworden und stapfte zur Hütte zurück: die Stirnlampe ausgeknipst, Schneeböen wehten mir ins Gesicht und griffen nach mir wie eisige Finger, und ich stemmte mich gegen den Wind, mit einer Hand am Führungsseil. Ich hörte das Keuchen meines Atems und das Knirschen meiner Schneeschuhe, und ich sah mit Bedacht nicht zurück. Das tue ich nie, wenn ich die Schneeschuhe trage, denn ich habe festgestellt, dass Schneeschuhe eine ziemlich unangenehme akustische Illusion erzeugen: Man bildet sich ein, dass man direkt hinter sich das Scharren anderer Schneeschuhe hört. Doch das ist natürlich nichts weiter als das Echo der eigenen Schritte.
    Ich wischte mir gerade den Schnee aus den Augen, da sah ich jemanden an der Eingangstüre stehen.
    Ich erschrak so sehr, dass meine Schneeschuhe über Kreuz gerieten und ich stürzte und mir die Hüfte an einem Felsen stieß.
    Natürlich war dort niemand. Es war nur der Bärenpfosten.
    Dämlich. Was ist mit dir los, Jack? Als Nächstes fürchtest du dich noch vor deinem eigenen Schatten! Ab jetzt achtest du hübsch auf jeden Schritt, mein Freund! Was, wenn du dir das Bein gebrochen hättest? Was, wenn du dir den Kopf gestoßen hättest und k.o. gegangen wärst?
    Später
    Gegen sechs Uhr hat es aufgehört zu schneien, und wir sind wieder von Stille umgeben. Die windstille Ruhe. Nur dass es sich nicht ruhig anfühlt. Es gibt eine Stille ohne Ruhe. Das hat Gruhuken mich gelehrt.
    Ich ertappe mich dabei, wie ich durch die Hütte schleiche, darauf bedacht, nicht zu viel Lärm zu machen. Es ist, als ob ich mich darum bemühe, keine Aufmerksamkeit zu erregen – doch wessen Aufmerksamkeit? Ich muss an die Pelztierjäger in der Hütte auf der Barents-Insel denken. Aus Entsetzen vor der Ödnis draußen.
    Es fällt mir schwer, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Ich unterbreche mich oft, um die Dochte zu stutzen. Ich gieße bereits nach, wenn die Lampen noch zu drei Vierteln voll sind. Ich kontrolliere ständig die Taschenlampenbatterien, und wenn ich hinausgehe, verlasse ich mich nicht auf meine Stirnlampe. Ich habe außerdem je eine Taschenlampe in beiden Taschen und nehme zusätzlich noch eine Öllampe mit. Und mache mir noch immer Sorgen. Dass die Batterien versagen. Dass ich die Lampe fallen lasse.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht begriffen, dass es ein absolutes Bedürfnis nach Licht gibt. Ich wusste nicht zu würdigen, dass da ein unüberwindlicher Unterschied ist zwischen einem winzigen Schimmer «Zwielicht» alle vierundzwanzig Stunden und dem puren Nichts. Eine einzige Stunde Zwielicht genügt, um die Normalität zu bestätigen. Es erlaubt einem die Aussage: Ja, hier ist das Land und die See und der Himmel. Die Welt existiert noch immer. Es ist erschreckend, wie schnell man ohne das zu zweifeln

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