Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
mir hereinzuspähen.
Ich hatte mich im Laufe der Wochen ein wenig mit dem Funker der meteorologischen Station auf der Bäreninsel angefreundet. Er heißt Ohlsen. Er hat in Bodø eine Frau und zwei kleine Töchter, und er vermisst sie. Doch seit die anderen fort sind, habe ich keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Ich möchte mich nicht auf den Fahrradgenerator setzen, mit Kopfhörern auf, und dabei dem Raum den Rücken kehren. Weil ich dann nicht weiß, was hinter mir vor sich geht. Obwohl da natürlich gar nichts ist.
Ich sorge mich um Gus. Sie werden wohl noch unterwegs sein nach Longyearbyen. Was, wenn sein Zustand sich verschlechtert und sie ihn an Bord operieren müssen? Ich habe vergessen, Algie zu sagen, dass er mir funken soll, sowie es etwas Neues gibt, aber daran wird er doch wohl selbst denken, oder? Wird er doch?
Das Wetter ist noch immer klar und kalt (minus zwölf), und es ist sehr windstill. Gegen zehn Uhr vormittags erscheint hinter den Klippen im Südwesten ein fahler grüner Schimmer: ein Beweis dafür, dass die Sonne irgendwo noch existiert. Im Nordwesten bleibt es tiefe Nacht. An einem klaren Tag wie heute verstärkt sich das Zwielicht zu rosigem Gold, das jeden einzelnen Bergkamm enthüllt und den Gletscher zum Leuchten bringt. Man kann gar nicht anders, als zu denken, die Morgendämmerung kommt – aber nein, bald wird es wieder dunkel, die Schatten färben sich bereits violett, das Zwielicht verblasst zu Grün. Mit der Zeit wird es zu nichts verblassen.
Und das Schlimmste daran ist, dass ich, wenn ich drinnen bin, das Zwielicht nicht sehen kann, weil die Hütte nach Nordwesten blickt, in die endlose Nacht.
24. Oktober
Ich bin mit einer brennenden Lampe auf dem Stuhl zu Bett gegangen, doch dann konnte ich nicht schlafen, weil ich ständig nachsehen musste, ob ich sie auch nicht umgeworfen hatte, und so blieb mir nichts anderes übrig, als sie schließlich doch zu löschen. Dann hatte ich im Halbschlaf einen grässlichen Traum. Mir war, als läge jemand in der Koje über mir. Ich sah die Wölbung der Matratze zwischen den Latten. Ich hörte sie knarren. Ich erwachte mit einem Ruck. Ich nahm all meinen Mut zusammen, stand auf und knipste die Taschenlampe an. Natürlich enthüllte sie nichts als einen Berg Kleidung.
Ich wünschte, wir hätten daran gedacht, Nachtlichter mitzubringen. Ich erinnere mich noch genau an den Eintrag in der Preisliste für Army & Navy: Clarke’s Pyramidennachtlicht, 12,90 Shilling im Dutzend, Brenndauer 9 Stunden .
Gewiss wird die Isbjørn Longyearbyen inzwischen erreicht haben. Vielleicht ist Gus bereits operiert. Vielleicht …
Hör auf, Jack. Geh und mach Frühstück. Porridge, vermischt mit einem schönen Batzen Pemmikan. Hörnchen mit Stachelbeermarmelade. Das wird es wieder richten.
Später
Wieder ein kalter, windstiller Tag (minus fünfzehn), aber bewölkt, also kein Zwielicht.
In Richtung See steht ein kohlrabenschwarzes Band am Himmel, das nach schlechtem Wetter aussieht, doch leider kann ich nicht sagen, ob es näher kommt oder sich verzieht. Diese Stille geht mir auf die Nerven. Wo bleiben die Schneestürme, die man uns für den Herbst angekündigt hatte?
Ohne Tageslicht haben Begriffe wie «Morgen», «Mittag» und «Abend» keine Bedeutung. Und doch halte ich daran fest. Ich zwinge sie der formlosen Dunkelheit auf wie ein Koordinatennetz. Ich weiß, dass «Abend» lediglich die Zeitspanne zwischen der Übermittlung um halb sechs und der Ablesung um sieben Uhr morgens beschreibt, doch ich reibe mir trotzdem die Hände und sage forsch: «Nun, was wollen wir heute Abend unternehmen?»
Heute alles ruhig, nichts Widriges zu berichten. (Es gefällt mir, wie ich es noch nicht einmal in diesem Tagebuch fertigbringe, es zu benennen. Ich umkreise es mit Beschönigungen. «Widrig». Was bedeutet das denn eigentlich? Bestimmt durch Unglück oder Verdruss. Nicht glückverheißend. Äußerst ungünstig. Unziemlich. Unziemlich. Das ist auch gut. Durchaus.)
Komisch, über was man so stolpert, wenn man nicht danach sucht. Ich bin noch einmal unsere Bücher über Spitzbergen durchgegangen, für den Fall, dass ich doch etwas übersehen habe, das erzählt, was hier geschehen ist. Eines der Bücher wurde 1913 veröffentlicht. Es beschreibt Spitzbergen als Bergmannsparadies. Reiche Kohleflöze, leicht auszubeuten. Tiefe Ankerplätze. Keine Steuern, keine Schürfabgaben, keine Gesetze. Sommer für Sommer fällt eine kleine Armee von Schürfern und
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