Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
dahinter ein Ende bereitet haben, dem, der am tiefsten saß.
»Ich gehe ja schon, reg dich nicht auf. Ich sehe, daß es dir gutgeht, auch wenn du gerade nicht den Eindruck vermittelst. Muß wohl an mir liegen. Als du deine Paarreime zum Besten gabst, schienst du in Form zu sein. Also, wir sehen uns.« Auf einmal wurde mir bewußt, daß ich ihn mit diesem unschuldigen letzten Satz noch mehr eingeschüchtert hatte. Zweifellos kam eine derartige Aussage für ihn einer Drohung gleich. Aber das machte mir kein Kopfzerbrechen, ich klärte ihn nicht über seinen Irrtum auf, das wäre mir ohnehin nicht gelungen, und letztlich war es mir egal. Ich hatte eine kleine Schwäche verspürt, und mit meinem Besuch hatte ich dafür bezahlt. »Auf Wiedersehen, Professor. War mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Schade, daß es eine so kurze und absonderliche Begegnung war.«
»Beim jungen De la Garza ist alles absonderlich«, sagte er abschätzig, er maß der Episode keine Bedeutung bei, bestimmt hatte er Schlimmeres erlebt; und damit stand er auf, nicht um mir die Hand zu schütteln, sondern um zu gehen. Sein Zorn war verflogen, das alles ging ihn nichts an, seine Gedanken durchstreiften schon wieder bessere Gefilde. »Warten Sie, ich gehe auch. Bis heute abend, Rafita. Das Glück werde ich kaum haben, daß du nicht zu meinem Vortrag erscheinst.«
So ließen wir De la Garza zurück, der noch immer hinter seinem Tisch verschanzt stand und es nicht wagte, Platz zu nehmen. Er verabschiedete sich nicht, er war wohl noch außerstande, ein zivilisiertes Wort zu äußern. Und während wir auf dem Weg zum Ausgang das lösbare Labyrinth durchschritten, der Professor und ich, konnte ich nicht umhin, eine Entschuldigung anzudeuten:
»Tja, wir hatten da einen kleinen Zwischenfall, und er ist noch nicht darüber hinweg.«
»Nein«, erwiderte er. »Sie können durchaus zufrieden sein: Der hatte die Hosen voll, einen Mordsbammel hatte er. Sie Glücklicher, ihn sich so vom Leib halten zu können. Er ist eine Klette. Ich bin ein wenig mit seinem Vater befreundet, deshalb muß ich ihn ertragen. Nur hin und wieder zum Glück, nur wenn ich für eine dieser lästigen offiziellen Veranstaltungen nach London komme.«
Als ich auf die Straße hinaustrat und wir auseinandergingen (sonderbarerweise nicht vorher), merkte ich, daß Rafitas Angst mir auch geschmeichelt hatte. Sich Respekt zu verschaffen, Furcht einzuflößen, sich selbst als Gefahr zu sehen, hatte auch seine angenehmen Seiten. Man fühlte sich dann selbstgewisser, optimistischer, stärker. Man fühlte sich wichtig und – wie soll ich sagen – als Herr. Doch bevor ich ins Taxi stieg, fand ich auch noch Zeit, diese unerwartete Eitelkeit abstoßend zu finden. Das verscheuchte nicht etwa die Selbstgefälligkeit, vielmehr bestand beides gleichzeitig fort. Beide Dinge waren miteinander verquickt, bis sie sich zerstreuten und ich sie später vergaß.
W enn man an einen wohlbekannten Ort länger nicht zurückgekehrt ist, selbst wenn es sich um die Stadt handelt, in der man geboren wurde und die man am meisten gewöhnt ist, in der man die längste Zeit gelebt hat und in der sich noch die Kinder und der Vater und die Geschwister aufhalten und gar die Liebe, die über viele Jahre außerhalb jeden Zweifels stand, selbst wenn dieser Ort für einen so ist wie die Luft), dann kommt ein Augenblick, in dem er sich verschwommen anfühlt, und die Erinnerung wird trübe, als litte das Gedächtnis an Kurzsichtigkeit und – wie soll ich sagen – an Kinematographie: Die verschiedenen Lebensphasen scheinen nebeneinander zu stehen, und bald weiß man nicht mehr recht, welchen Ort man verlassen hat oder von wo man zuletzt abgereist ist, von dem der Kindheit oder dem der Jugend oder dem des Erwachsenenlebens oder dem des schon fortgeschrittenen Alters, in dem die Umgebung an Gewicht verliert und man nur ungern zugibt, daß einem letztlich ein eigenes Eckchen in fast jeder Weltgegend recht ist.
So hatte ich während meiner schon lange andauernden Abwesenheit begonnen, Madrid zu sehen: verschwommen und trübe, kumulativ, schillernd, eine Bühne, die mich, obwohl für mich dort so viel auf dem Spiel stand – so viel Vergangenheit, auch so viel Gegenwart aus der Ferne –, wenig anging und die vor allem sehr gut ohne mich zurechtkam (schließlich hatte sie mich entlassen, mich aus ihrer bescheidenen Darbietung vertrieben). Gewiß, jeder Ort kommt ohne einen zurecht, nirgends ist man unentbehrlich, nicht einmal
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