Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
oft war ich auch nicht zu Hause, dort fehlte die Betäubung, die mich Tag für Tag aufrechterhielt und von dem Fluch befreite, Pläne zu schmieden. Nur eines konnte ich sicher erkennen, daß es nicht Bach war.
Die polnische Babysitterin zog ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer, sie zog sich in die Küche zurück, um mit ihrem Freund zu sprechen, ohne daß ich sie hören konnte, vielleicht aus Schamhaftigkeit, vielleicht um mich nicht mit einem zuckersüßen oder womöglich obszönen Gespräch zu behelligen (man kann nie wissen, so katholisch sie auch sein mochte). Mir ging durch den Sinn, daß sie, wäre ich nicht dagewesen, von Luisas Anschluß aus angerufen hätte, auf dem Festnetz, um ganz zwanglos plaudern zu können, weil es sie ja nichts kostete, allein schon deshalb mußte es ihr gegen den Strich gehen, daß ich nicht zur erwarteten Zeit abgehauen war. Ich hatte Heinrich V. aus dem Regal gezogen, da Wheeler das Stück in seinem Haus am Cherwell zitiert und sich darauf bezogen hatte, seither nahm ich es oft zur Hand und las auszugsweise oder blätterte darin, obwohl ich die von ihm erwähnten Passagen schon vor geraumer Zeit gefunden hatte. Genauer gesagt hatte ich King Henry V. herausgenommen, also die englische Fassung, ein Exemplar der alten Arden-Ausgabe von Shakespeares Werken, laut meinem handschriftlichen Eintrag auf der ersten Seite 1977 in Madrid erworben, irgendwann hatte ich Anstreichungen vorgenommen, unmöglich zu rekonstruieren, wann – wahrscheinlich kannte ich noch nicht einmal Luisa –, aber ich befand mich nicht in der geistigen Verfassung, dem Text Aufmerksamkeit zu widmen oder lange in meinem Gedächtnis zu suchen, ich überflog ihn nur und sah mir an, was jener junge Leser markiert hatte, der ich gewesen war, an einem fernen Tag, der vor lauter Vergessen gar nicht existierte. Mein Geist harrte allein auf ein Geräusch, und die anderen erreichten mich eben, weil das Gehör wachsam auf dieses eine wartete, um das es mir ging: den Aufzug auf dem Weg nach oben, gefolgt von einem Schlüsselklimpern. Ersteren hörte ich mehrmals, aber er blieb in anderen Stockwerken stehen und nur einmal auf unserem, und dann blieb das zweite Geräusch aus, es war nicht Luisa, die da nach Hause kam.
Mercedes kehrte zurück ins Wohnzimmer, mit einem zufriedeneren oder weicheren Ausdruck. Sie hatte feine Züge, war jedoch blond und blaß und kalt bis zur Auflösung, so daß das nicht viel wert war. Sie fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn sie den Fernseher einschaltete, ich verneinte, obwohl das nicht stimmte, der Ton würde alles andere überdecken; aber ich war hier nur ein unvorhergesehener Besucher, wenn nicht gar ein Eindringling: Mit jeder Minute, die ich noch verweilte, wurde ich immer mehr dazu. Die junge Frau zappte mit der Fernbedienung durch die Kanäle und entschloß sich dann, bei einem Film zu bleiben, in dem echte Tiere die Hauptrollen spielten, Ein Schweinchen namens Babe, ich erkannte ihn gleich wieder, ich hatte ihn, wie mir schien, mit Guillermo im Kino gesehen, das war schon Jahre her, unbegreiflich, daß die hirnverbrannten Programmacher den Film zu so später Stunde brachten, wenn die meisten Kinder längst schliefen. Ich sah eine Weile vergnügt zu, der Film forderte mich weniger als Shakespeare, und das Schweinchen war ein großartiger Darsteller, mir kam der Gedanke, es sei in dem Jahr womöglich für den Oscar nominiert worden, daß es ihn gewonnen haben könnte, glaubte ich allerdings nicht; ich würde für Marina die DVD suchen, vielleicht hatte sie ihn noch nicht gesehen, sie war ja erst später zur Welt gekommen. Ich sann über das traurige Los der Schauspieler nach – ihr Beruf steht jedem offen, Kindern und Hunden, Elefanten, Affen und Schweinen, dagegen ist noch kein Tier dafür bekannt geworden, Musik komponiert oder ein Buch geschrieben zu haben; na ja, genau genommen kommt es darauf an, wie eng man den Begriff ›Tier‹ interpretiert –, da sah ich, wie Mercedes aufsprang, in Windeseile ihre Sachen zusammensuchte und mit einem knapp gemurmelten ›Auf Wiedersehen‹ zur Tür lief. Erst als sie schon direkt davorstand, hörte ich den Schlüssel und hörte ich die Tür, es war, als hätte sie ein äußerst feines Gehör und exakt wahrgenommen, in welchem Moment Luisa unten vor dem Haus aus einem Wagen oder Taxi stieg. Sie konnte es anscheinend kaum erwarten zu gehen, sie wollte sich wohl nicht länger aufhalten als erforderlich war, damit sie ihren
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