Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
zu machen, daß sie sie wecken könnte –, glaubte ich trotz der Tarnung, um die sie sich in ihrem Badezimmer bemüht hatte, das auch das meine gewesen war, mit einem Mal zu begreifen, warum sie versucht hatte, mir aus dem Weg zu gehen, und daß es nicht war, weil sie mich nicht sehen wollte, sondern weil ich sie nicht sehen sollte.
Auf den ersten Blick sah sie blendend aus, gut angezogen, gut beschuht, nicht besonders gut frisiert, wobei es ihr stand, daß sie ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, das verlieh ihr etwas Jugendlich-Naives, fast wie bei einem jungen Mädchen, das in flagranti erwischt wird, wie es zu nachtschlafener Zeit nach Hause kommt, wer war ich, um ihr Vorhaltungen zu machen oder mich auch nur zu wundern. Bevor ich bemerkte, was anders war als sonst, konnte sie noch ein, zwei Sätze zu mir sagen, mit einem Ausdruck im Gesicht, in dem sich die Freude, mich zu sehen, mit dem Unwillen mischte, mich anzutreffen, auch mit der Furcht, daß ich sie ertappen könnte, oder vielleicht schwankte sie zwischen Scham und Herausforderung, als hätte ich sie bereits bei etwas ertappt, das mir nicht gefallen oder mir tadelnswert erscheinen würde, und als wüßte sie nicht, ob sie die Waffen strecken und ein Geständnis ablegen oder zu ihnen greifen und sich hinter ihrer Position verschanzen sollte, es ist merkwürdig, wie sich Paare, die längst keine mehr sind, noch immer füreinander verantwortlich fühlen und so, als gäbe es weiterhin die Pflicht, loyal zu sein oder auch nur dem anderen zu erzählen, wie es ohne ihn geht und was mit einem los ist, vor allem, wenn einem etwas Seltsames widerfährt oder wenn das, was gerade geschieht, etwas Schlechtes ist. Mir widerfuhren zur Zeit Dinge, die ich aus der Entfernung verschwiegen hatte: Zweifellos hatte ich an Festigkeit oder an Halt, an Urteilskraft verloren, ich ging einer Tätigkeit nach, deren Folgen ich nicht überblicken konnte, nicht einmal, ob es welche gab, und das für ein verdächtig hohes Gehalt; mir waren vormals unbekannte Gifte eingeflößt worden, und letztlich führte ich ein von Tag zu Tag gespenstischeres Leben, versunken in den traumähnlichen Zustand dessen, der in einem fremden Land lebt und beginnt, nicht mehr immer in seiner Muttersprache zu denken, sehr allein dort in London, wenn auch täglich unter Menschen, aber das waren alles Arbeitskollegen, und daraus entstanden keine reinen Freundschaften, nicht einmal mein Verhältnis zu Pérez Nuix hatte sich sonderlich verändert seit unserer fleischlich geteilten Nacht – es war nicht das Verhältnis zu einer Geliebten, das war sie nicht, da es weder Wiederholung noch Lachen gegeben hatte –, wir hatten es allzusehr verborgen und verschwiegen, vor den anderen und vor uns selbst, und was vorgeblich nicht geschehen ist und immer stillschweigend bleibt, ist am Ende tatsächlich nicht geschehen, auch wenn uns das Gegenteil bekannt ist: Beides ist wahr, das, was Jorge Manrique in den Coplas por la muerte de su padre schrieb, vor etwa fünfhundertdreißig Jahren und nur zwei vor seinem eigenen frühen Tod, noch bevor er das vierzigste Lebensjahr vollendet hatte, tödlich verwundet von einer Arkebuse beim Angriff auf eine Burg (schlimmer, unehrenhafter noch als Richard Yea and Nay, den ein Pfeil aus einer Armbrust ereilte) – ›Wenn wir weise urteilen, erachten wir, was nicht gekommen, für vergangen‹ –, und die genaue Umkehrung dessen, und dann werden wir das Vergangene als nicht gekommen erachten können, als nicht gekommen alles, was uns geschehen ist, und unser ganzes Leben als nicht gelebt. Welches Gewicht hat es also, was wir darin unternehmen, oder warum ist es uns so wichtig …
»Du mußtest bleiben, was, Jaime?« konnte Luisa mir noch sagen. »Du mußtest so lange warten, bis du mich sehen konntest.«
Doch jetzt, nach dem ersten flüchtigen Blick, fiel mir sofort auf, was anders war, das war unvermeidlich, wenigstens für mich. Sie hatte versucht, es zu überschminken, es zu verbergen, es zuzudecken, vielleicht auf dieselbe Weise, in der Flavia sich auf der Damentoilette mit der abwegigen Hilfe von Tupra erfolglos darum bemüht hatte, das Zeichen auf ihrer Wange unsichtbar zu machen, ihre vom Strick herrührende Abschürfung, ihren von der Peitsche stammenden Striemen, das Mal, das die blödsinnigen Hiebe von De la Garza verursacht hatten während ihres besessenen Tanzes auf der raschen Tanzfläche. Was Luisa im Gesicht hatte, war etwas anderes, nicht
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