Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
allzu stabilen und ruhigen Platz?‹), und auf einmal sah er mich lange aus seinen hellen Augen an, ohne etwas zu erwidern, die Stirn in die Hand gestützt, auf eine Armlehne den Ellenbogen, das war seine übliche Haltung, wenn er nachdachte und sich darauf vorbereitete, etwas zu sagen, manchmal hatte ich den Eindruck, er formuliere im Geist seine Sätze vor, die ersten, einige wenige, bevor er sie aussprach (die nächsten dann nicht mehr). Er musterte mich lange mit einer Mischung aus Interesse, einem Anflug von Ungeduld und einem Anflug von Mitleid, als wäre ich nicht etwa sein Sohn, sondern ein jüngerer Freund in Nöten, den er wirklich schätzte und an dem er zwei Dinge merkwürdig, vielleicht enttäuschend fand: zum einen, daß ich mich so sehr mit einer Frage fremder Gefühle und vielleicht auch fremder Berechnung plagte, gegen die man nichts unternehmen kann; zum anderen, daß ich, obwohl ich doch längst erwachsen, obwohl ich doch Vater war, in meinem Alter und mit meiner Erfahrung noch immer nicht begriff, wie unvereinbar diese Schmerzen, oder vielleicht sind es nur Beunruhigungen, mit seinen Beschwerden waren.
»Du scheinst dich partout nicht damit abfinden zu wollen, Jacobo«, sagte er schließlich, nachdem er mich eine Weile betrachtet hatte, »aber dir wird nichts anderes übrigbleiben. Wenn jemand nicht mehr mit einem zusammensein will, muß man das hinnehmen. Für sich allein und ohne ständig darauf zu achten, wie der andere einen sieht oder sich entwickelt, ohne Ausschau nach Zeichen zu halten und Umschwünge zu erwarten. Wenn ein Umschwung eintritt, dann nicht, weil du die Augen offenhältst oder mich befragst oder irgendwen aushorchst. Man darf nicht dauernd hinterher sein, man darf nicht mit der Lupe oder dem Feldstecher anrücken oder Spione einsetzen oder den anderen bedrängen oder sich ihm gar aufzwingen. Auch sich verstellen hilft nicht viel, es bringt nichts, den Mürrischen oder den Zivilisierten zu geben, wenn man sich in der Sache weder mürrisch noch zivilisiert fühlt, und bei dir scheint mir keines von beidem der Fall zu sein, noch nicht. Sie wird sie dir anmerken, diese Verstellung. Bedenke, daß eine der Eigenschaften der Verliebtheit oder ihrer Begleitumstände, sogar ihrer unfreiwilligen Masken (oft verwechselt man sie mit Sturheit, in der ersten und letzten Phase, wenn man den Eindruck hat, daß die Liebe des anderen noch keine Wurzeln geschlagen hat oder sich bereits verliert), die Durchsichtigkeit ist. Den geliebten Menschen oder den, der sich so fühlt oder gefühlt hat (der das kennengelernt hat), kann man nur schwer täuschen, außer natürlich, er möchte sich selbst gerne täuschen, was nicht selten vorkommt, das gebe ich zu. Aber sofern man dazu bereit ist, merkt man immer, wenn man nicht mehr geliebt wird: wenn alles nur noch aus Gewohnheit besteht oder aus einem Mangel an Entschlossenheit, dem Ganzen ein Ende zu setzen, oder aus dem Wunsch, keine Unordnung zu stiften und keinen Schmerz zuzufügen, oder aus Angst ums Leben oder das Geld, oder aus dem bloßen Fehlen von Vorstellungskraft, die meisten Leute sind nicht in der Lage, sich ein anderes Leben auszumalen als das, das sie führen, und ändern schon allein deswegen nichts daran oder erwägen es auch nur; sie greifen zu Behelfslösungen, schieben auf, suchen nach Ablenkungen, sehen sich nach einem Liebhaber oder einer Geliebten um, sie gehen in die Spielhölle, reden sich ein, was da ist, sei durchaus erträglich, sie vertrauen sich der Zeit an; aber es anders zu versuchen, das kommt ihnen nicht in den Sinn. Nur Berechnung kann das Gefühl überwinden, und das auch nur manchmal. Und auf dieselbe Weise weiß man, wann man noch geliebt wird, vor allem, wenn man bereits wünscht, daß diese Liebe schwindet oder zu Ende geht, wie es zumeist bei denen der Fall ist, die sich trennen. Wenn der, der die Entscheidung getroffen hat, kein Egoist oder Sadist ist, dann brennt er darauf, daß der andere geht, daß er sich aus dem Spinnennetz löst, daß er aufhört, ihn zu lieben und ihn damit zu belasten. Soll er sich doch einem anderen Menschen zuwenden oder auch keinem, wenn er nur bitte endlich von ihm abläßt.« Mein Vater schwieg für einen Moment und richtete seine Augen noch einmal voll Aufmerksamkeit auf mich, so wie man es manchmal bei Abschieden tut. Es war, als würde er mich genau studieren, was unwahrscheinlich war, denn seine Sehkraft hatte stark nachgelassen, und es kostete ihn Mühe, zu lesen oder auch nur
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