Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
anderen zu bekommen oder es von ihm zu fordern oder ihn zu nötigen oder zu überreden oder abzuschrecken oder zu vertreiben. Ich stand an der scheußlichen Almudena und sah zu den Balkonen hoch, in dem lachhaften Gedanken, ich könnte das Riesenglück haben, daß Custardoy einen Blick von seinem warf, während ich da war, ich würde ihn an seinem Pferdeschwanz und anhand von Cristinas lustloser Beschreibung erkennen und dann ohne weitere Anstrengung oder Nachforschung wissen, in welcher Wohnung er arbeitete oder lebte. In den ersten drei Stockwerken gab es Balkone, im vierten nur Fenster, es schien eine leichte Dachschräge zu haben. Die Balkone über dem Eingang waren aus Stein mit kleinen Säulen, die der beiden Stockwerke darüber aus fein verziertem Gußeisen, alle mit hölzernen Fensterläden, die offenstanden, ein Zeichen, daß alle in Gebrauch und keiner der Bewohner abwesend oder verreist war, Custardoy in der Stadt. Ich beobachtete jeden Balkon und jedes Fenster und versuchte zu begreifen – mehr als es mir vorzustellen, das wäre mir als unerquickliche und nutzlose Übung erschienen –, daß hinter einem davon Luisa und Custardoy sich trafen und miteinander ins Bett gingen, daß sie lachten und redeten, einander erzählten, wie ihr Tag gewesen war, möglicherweise in Streit gerieten, und da schlug er ihr mit der offenen Hand auf die Wange oder mit der zur Faust geballten Hand aufs Auge. Der Bursche mußte jähzornig sein, oder vielleicht nicht, vielleicht war er kalt und tat es aus Berechnung, um sie schon zu einem frühen Zeitpunkt zu warnen und sie daran zu erinnern, wozu er imstande war und in welchem Maß. Und es konnte sein, daß eines Nachts meine Frau aus diesem reich verzierten Eingang kam, vor dem ich stand, zitternd vor Angst und Erregung, entsetzt und gebannt zugleich. Nein, der Typ gefiel mir nicht, das, was ich von ihm wußte und was ich mir ausmalte.
Außerdem bekam ich Lust, jeden Morgen gleich nach dem Frühstück und bevor ich etwas anderes unternahm, den Prado aufzusuchen, ich brauchte von meinem Hotel nur über die Straße zu gehen. Nicht nur gefiel es mir dort und war viel Zeit vergangen, seit ich zuletzt einen Blick in das Museum geworfen hatte. Ich hatte auch den Satz meiner Schwägerin Cristina im Sinn, Custardoy betreffend: ›… er bekommt gelegentlich Aufträge für Bilder aus dem Prado, und dann sitzt er in den toten Stunden dort und studiert und kopiert sie.‹ Bevor ich also den Blick auf irgendwelche Bilder richtete, als ich das Museum zum ersten Mal wieder betrat, durchstreifte ich es von oben bis unten und von einem Ende zum anderen und sah mir alle dort tätigen Kopisten an, ich hielt Ausschau nach einem Mann um die Fünfzig mit zurückgekämmten Haaren und Pferdeschwanz, bereit, die toten Stunden vor einem Gemälde zu verbringen, das er sich nicht ausgesucht hatte, einem guten, mittelmäßigen oder schlechten. Natürlich sah ich niemanden, auf den die Beschreibung zutraf, im Gegenteil, die meisten waren recht junge Frauen, wenn auch nicht alle so jung, daß sie ausnahmslos Kunststudentinnen hätten sein können. Vielleicht ist das ja ein weiterer Beruf, den sich die weibliche Bevölkerung angeeignet hat und kompetent erledigt, der des Kopisten wie des Restauratoren. Auch am zweiten Tag sah ich keinen passenden Kandidaten. Ich drehte dieselbe Runde wie das Mal zuvor, aber schon mit weniger Überzeugung oder Aberglauben: Die Aufgabe des Kopisten erfordert so viel Zeit, daß höchstwahrscheinlich noch immer nur die Leute vom Vortag dawaren, und das war dann auch mein Eindruck; es wäre ein außerordentlicher Zufall gewesen, wenn Custardoy ausgerechnet an dem Tag mit einer seiner Kopien oder Fälschungen begonnen hätte, als ich vor Ort und so wachsam war. Das hinderte mich jedoch nicht, meine Gewohnheit bei den weiteren Besuchen fortzuführen, zunächst durchschritt ich also immer zügig die Säle und sah mir jeden genau an – es waren nicht viele –, der vor seiner Staffelei saß oder stand und sich abmühte, um zu reproduzieren, was er vor Augen hatte, das schon Existierende und in der Regel vor mehreren Jahrhunderten besser Gemalte.
Am fünften Tag stand ich spät auf, nach einer etwas feucht-fröhlichen Nacht mit alten Freunden aus der Stadt, und ging daher erst gegen ein Uhr Mittag in den Prado, etwa zwei Stunden später als üblich. Ich wollte ein paar Säle mit italienischen Meistern besuchen, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und da die Museumsleitung
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