Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
wenn ich dieses Bild sah, fühlte ich mich wie zu Hause. Bei einem meiner kurzen Ausflüge in den Nachbarsaal blieb ich zu lange vor dem Baldung Grien stehen, und als ich in den Italienersaal zurückkam, sah ich den Mann vor dem Parmigianino nicht mehr, vor der Gräfin und ihren Söhnen, meine ich. Mit einem Satz sprang ich die Stufen hinunter und sah mich aufgeschreckt nach beiden Seiten um, zum Glück entdeckte ich ihn sofort, er war unterwegs zu der Treppe, die ins nächsthöhere Stockwerk und von dort aus zum Ausgang führte, seinen Block bereits zugeklappt unterm Arm. Ich begann ihm also zu folgen oder wurde noch mehr zu seinem Schatten, auf andere Weise, als ich während unserer Reisen der von Tupra gewesen war, in beiden Fällen trat ich in den Hintergrund. Oben angekommen, ging er zur Garderobe, und ich wartete mit dem Rücken zu ihm darauf, daß er wieder auftauchte; alle drei Sekunden drehte ich den Hals, um ihn nicht abermals aus den Augen zu verlieren, und als er herauskam, stellte ich mit Entsetzen fest, daß das, was er dort abgegeben und nun geholt hatte, ein Hut war, vielleicht ein Fedora (›Ein Typ mit Pferdeschwanz und Hut‹, dachte ich, ›vielleicht mit Fedora. Das hat mir noch gefehlt.‹) Er war so rücksichtsvoll, ihn nicht aufzusetzen, solange er sich noch im Gebäude befand, sondern erst, als er auf die Straße trat, und da sah ich – große Erleichterung verschaffte es mir nicht –, daß die Krempe breiter war als bei einem Fedorahut, mehr der eines Malers oder Orchesterdirigenten, eines Künstlers, ganz in Schwarz. Das Haupt bedeckt, begann er den Abstieg über die Außentreppe gegenüber vom Hotel Ritz, und ich ging ihm hinterher, immer aus einer gewissen Entfernung. Er überquerte raschen Schrittes den Paseo del Prado und blieb vor einer brasserie stehen, sah sich das Menü an und warf durch die Glasfront einen Blick ins Innere; dabei hielt er sich eine Hand vor die Augen, gegen die Spiegelung (reichte dazu denn nicht die Krempe seines Angeberhuts?), als überlegte er, in dem Lokal zu Mittag zu essen – aber es war früh für Madrid, wenn man kein Ausländer war; vielleicht täuschte ich mich ja, und er war einer; es kam mir nicht so vor, ich sah in seiner gesamten Erscheinung etwas unzweifelhaft Spanisches, vor allem im Gang, oder lag es an der Hose –, ich nutzte den Zwischenhalt, um mir die Schaufenster eines nahen Geschäfts anzusehen, in dem Kunsthandwerk aus Toledo verkauft wurde, darunter auch Schwerter; in erster Linie für Touristen, gewiß, obwohl man heutzutage niemanden eines im Flugzeug mitnehmen ließe, man würde es aufgeben müssen, und selbst dann, es würde nicht leicht in einen Koffer passen; auch auf Zugreisen wären Schwerter nicht erlaubt, ich fragte mich, wer zum Henker sich jetzt noch eines kaufen sollte, wenn man sie nirgends mit sich führen durfte, ein Sammler dekorativer weißer Waffen wie Dick Dearlove mußte sie sich wohl irgendwie schicken lassen. Die Mehrzahl war vermutlich aus dem weltberühmten Toledostahl, überaus spanisch und überaus mittelalterlich, aber mir sprang ins Auge, daß sich unter den ausgestellten Exemplaren auch eines befand, das sich seiner schottischen Herkunft brüstete und sogar die Inschrift ›McLeod‹ auf dem Handschutz trug, ein unedles Zugeständnis an die kinoverrückten angelsächsischen Massen. Mir schoß durch den Kopf, daß ich mir eines kaufen sollte, nicht in diesem Moment, versteht sich, sondern später, etwas hatte ich von Tupra über die Wirkung gelernt, die diese archaische Waffe erzielen kann. Fast alle waren jedoch viel länger und breiter, sicherlich schwieriger zu führen und schwerer von Gewicht als die ›Katzenschlitzer‹ oder Landsknechtsschwerter oder Katzbalger, die Klingen sahen martialisch aus. Gewiß konnten sie mit einem Hieb die Hand abtrennen. Gewiß konnten sie zerstückeln. ›Aber nein‹, dachte ich erneut, ›besser wäre ein Schwert, das ich nicht loszuwerden bräuchte, eines, das an seinen Ort zurückkehren kann, gebraucht oder nicht, das ist egal, eines, das ich nicht wegwerfen oder absichtlich liegenlassen muß, damit es dann doch immer jemand findet.‹
Der nun schon wahrscheinliche Custardoy ging weiter über die Carrera de San Jerónimo, vorbei an meinem Hotel, er warf einen Blick ins Foyer, las die Gedenktafel, die dort angebracht ist und auf der die verblüffende Information zu lesen steht, das Palace sei in den Jahren 1911 und 1912 in einer außerordentlich kurzen Zeitspanne von
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