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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Seitengasse ein, die dahinter abging, er nahm einen anderen Weg, und ich erschrak, es konnte nicht sein, daß er im letzten Moment doch nicht er war und nicht einmal in die Nähe des reich verzierten Hauseingangs kam, vor dem ich schon zwei Mal stehengeblieben war. Am Ende der Gasse, die kaum mehr war als ein kurzes Stück Fußgängerzone, sah ich ihn auf der linken Seite verschwinden, ich beschleunigte meinen Schritt ein wenig, um zu sehen, wohin er sich wandte, und um ihn nicht zu verlieren, und als ich die Stelle erreichte, hätte er mich beinahe gesehen: In einer Biegung standen Tische vor einer alten Bar, El Anciano Rey de los Vinos, und Custardoy war im Begriff, dort Platz zu nehmen, mit Blick auf den Palacio Real schräg gegenüber; im Zuge der Erderwärmung herrscht in Madrid fast sechs Monate im Jahr ein mehr oder weniger sommerliches Klima, so daß die Lokale lange nach und vor der entsprechenden Jahreszeit Tische draußen haben. Ich drehte mich sofort um, damit er mein Gesicht nicht sah, und gab vor, wie ein Tourist eine weitere metallene Gedenktafel zu lesen, die in unmittelbarer Nähe angebracht war (na ja, ich las sie natürlich auch wirklich): ›An diesem Ort stand einst das Anwesen der Ana de Mendoza y la Cerda, Prinzessin von Eboli, und hier wurde sie auf Geheiß von Philipp II. im Jahr 1579 festgenommen.‹ Das war die einäugige intrigante Dame, vielleicht auch Spionin, die zu ihrer Zeit gewiß Cholera- und Malaria- und Pesterreger verbreitet hatte, wie Wheeler, der es mir gestanden hatte, und mit Sicherheit auch Tupra, oder hatte er Lunten angezündet, um Großbrände zu entfachen. (Vor dieser Art von Ansteckung ist keine Epoche sicher gewesen; in allen gibt es Leute mit Fackeln, in allen gibt es Leute, die reden.) Sie – die Dame – wurde immer mit einer schwarzen Augenklappe dargestellt, auf dem rechten Auge, so schien mir aufgrund der vagen Erinnerung an irgendein Gemälde, und ich glaubte sie sogar in einem Film gesehen zu haben, gespielt von Olivia de Havilland.
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Custardoy beim Kellner etwas bestellte, und schlenderte zurück durch die Gasse bis zur Ecke der Calle Mayor; ich überlegte, was ich tun sollte, als erstes mich entfernen. Von dort aus hatte ich ihn nicht im Blick, aber von so gut wie jedem anderen Ort aus hätte er mich wahrscheinlich auch sehen können. Eine lächerliche Statue stand da, bei der Custardoy zu Recht nicht haltgemacht hatte; es war eines der ›namenlosen‹ Monumente, die in unseren Städten immer häufiger werden (ein Widerspruch in sich, die ›Demokratisierung‹ der Denkmäler), doch die Statue sah Hemingway verdächtig ähnlich, dem Schutzvater der Touristen. Und es hing dort eine weitere metallische Gedenktafel, auf der stand: ›In dieser Straße wurde am 31 . März 1578 , in der Nacht zum Ostermontag, Juan Escobedo ermordet, der Sekretär Johanns von Österreich‹. Wieder kam mir das bekannt vor, dieser undurchsichtige Mord; vielleicht hatte just die Prinzessin von Eboli Anteil daran gehabt, obwohl es sehr töricht gewesen wäre, einen Feind direkt vor der eigenen Haustür zu töten. (Später las ich in Büchern nach, anscheinend ist weiterhin ungeklärt, ob der Befehl von der Prinzessin kam oder von Philipp II . persönlich oder von dessen verschwörerischem Sekretär Antonio Pérez, der im Exil endete; ein nach über vier Jahrhunderten noch immer ungelöstes Verbrechen, das in jenem Seitengäßchen stattgefunden hatte, damals hieß es Camarín de Nuestra Señora de la Almudena. Aber ich weiß nicht, warum ich ›noch immer‹ und ›weiterhin‹ gesagt habe: In manchen Fällen löst der Ablauf der Zeit überhaupt nichts, so vieles bleibt unbekannt und verleugnet und verborgen, sogar für uns selbst in bezug auf unsere eigenen Taten.) ›Viele Einäugige und Einarmige, viele Lahme und Tote auf diesen alten Straßen‹, dachte ich zu meiner Überraschung. ›An einem mehr werden sie sich kaum stören, wenn es sich so ergibt.‹
    Ich beschloß, ein paar kurze Runden durch die unmittelbare Umgebung zu drehen, so daß ich in nicht allzu großen Abständen wieder an den Punkt zurückkam, wo ich Custardoy von weitem sehen und er mir nicht entwischen konnte, ich durfte den Augenblick nicht verpassen, wenn er seine Rechnung beglich, aufstand und sich wieder in Bewegung setzte, vom Anciano Rey de los Vinos zu seinem mutmaßlichen Haus war es ein Katzensprung, er brauchte nur zwei Straßen zu überqueren. Also entfernte ich mich

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