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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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unerträglich oder vielleicht unwiderstehlich machen. Das waren Augen, die zupackten wie Hände, und eines Nachts oder Tages hatten sie sich auf Luisas Gesicht und Körper niedergelassen und sie zu ihrer Beute gemacht. (›Und mit komischen schwarzen Augen, ich kann dir nicht sagen, was, aber irgend etwas daran ist seltsam, eigen, wenig angenehm für meinen Geschmack‹, so Cristinas unzureichende Beschreibung.) Deshalb, damit sie keine Zeit hatten, mich zu erfassen oder zu packen, entfernte ich mich von dem Porträt des Grafen, machte ein paar Schritte zurück und betrat den Nachbarsaal, der zur Linken lag und leicht erhöht war (man mußte nur drei oder vier Stufen nehmen). Vor dort aus konnte ich etwa jede halbe Minute einen Blick hineinwerfen, damit Custardoy mir nicht unversehens entwischte, und gleichzeitig riskierte ich viel weniger, ein weiteres Mal in sein Blickfeld zu geraten. Bei jenem ersten Aufblitzen seines Gesichts von vorne erinnerte er mich an jemanden, nicht etwa an den Sänger, sondern an jemanden, den ich persönlich kannte, aber es ging allzuschnell vorbei, als daß ich hätte erfassen können, wer das war oder ob die Erinnerung zutraf.

    Der Nachbarsaal war mehr oder weniger fest in deutscher Hand. Dort befanden sich Dürers berühmtes Selbstbildnis sowie sein Adam und seine Eva . Doch mein Blick wanderte sofort zu einem schmalen Bild im Längsformat, das ich seit meiner Kindheit immer wieder betrachtet hatte, damals war es kein Wunder, daß es einen tiefenEindruck bei mir hinterließ und mir eine gewisse mit Neugier gefärbte Angst einflößte, Die Lebensalter und der Tod von Hans Baldung Grien, es gehört ebenfalls mit einem anderen Bild im selben Format und von derselben Größe zusammen, das daneben hängt, Die Harmonie der drei Grazien . Darauf hält der Tod, zur Rechten, eine alte Frau am Arm gepackt oder untergehakt und zieht sie ohne Gewalt oder Eile mit, während die alte Frau ihren freien Arm um die Schulter einer jungen Frau legt und mit der Linken an deren knapper Kleidung zieht, als wollte sie sie ihrerseits sanft mit sich zerren. Der Tod hat das Stundenglas in der Rechten (›die Figur eines Stundenglases‹, erinnerte ich mich, und mit der Linken hält er kraftlos eine an zwei Stellen gebrochene Lanze (fast wirkt sie wie ein Blitz ohne Donner), deren Spitze in die Hand eines zu Füßen der Gruppe schlafenden Kindes fällt oder dort zu liegen kommt, vielleicht fehlt ihm noch einiges, um sich den anderen anzuschließen, es scheint nichts auf ihre Transaktionen zu geben. Zu seiner Linken hockt eine Eule; im Hintergrund ist eine sonnenbeschienene Landschaft, die eher wie eine Mondlandschaft wirkt, düster, trostlos und mit einer in Flammen stehenden Turmruine im Hintergrund; vom Himmel hängt das unvermeidliche Kreuz. Seit meiner Kindheit hatte ich mich immer gefragt, ob die junge und die alte Frau ein und dieselbe Person in sehr unterschiedlichen Lebensaltern sind oder ob es sich um zwei verschiedene Personen handelt, das heißt, ob die Alte an sich selbst zerrt, von der Jugend zum Greisenalter, um sich dann vom Tod mitreißen zu lassen, oder eben nicht, und dann wäre die Angelegenheit noch beklagenswerter und schlimmer. Tatsächlich sah ich zuviel Gemeinsames an ihnen: Die blauen Augen, die Nase, die alles andere als vollen Lippen, das etwas spitze Kinn, das lange, gewellte Haar, die Statur, die nicht sehr üppigen und eher zentrifugalen Brüste, die Füße, die ganze Erscheinung bis hin zum Gesichtsausdruck wiesen Übereinstimmungen auf oder waren jedenfalls in keiner Weise entgegengesetzt. Die junge Frau runzelt besorgt oder verdrossen die Stirn, nicht aber verschreckt oder entsetzt, wie es wahrscheinlich der Fall wäre, wenn eine Unbekannte oder auch nur eine andere Person an ihr zerrte, und wenn es ihre Mutter wäre. Sie kämpft nicht und leistet keinen Widerstand und versucht auch nicht, sich von der Hand auf ihrer Schulter loszumachen, sie achtet allenfalls darauf, daß ihr die leichte Kleidung nicht ganz vom Leib gerissen wird. Die Alte wiederum hat ihre Aufmerksamkeit voll auf sie und nicht auf den Tod gerichtet, und in ihrem Blick liegt eine Mischung aus Ernst, Verständnis, Festigkeit und Mitleid, niemals jedoch böser Wille, als wollte sie zu der jungen Frau sagen (oder zu sich selbst, als sie jung war): ›Tut mir leid, aber es geht nicht anders‹ (oder ›Komm schon, es muß weitergehen; laß dir das von mir sagen, die ich schon da bin‹). Dem Tod, der sie am Arm

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