Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
fünfzehn Monaten von der Firma Léon Monnoyer geplant, entworfen und gebaut worden, Franzosen oder Belgier vermutlich, ich weiß nicht, wie die Baufirmen von heute – diese Plage, dieser Heuschreckenschwarm – nicht vor Scham im Boden versinken, oder vor Schamlosigkeit; etwas weiter oben blieb er vor der Cervantes-Statue auf der linken Seite stehen, auch diese mit Schwert in der Scheide, ungefähr gegenüber vom Abgeordnetenhaus, nur für einen Augenblick, es standen Streifenwagen herum, fünf oder sechs Beamte mit Maschinenpistolen davor, um die Herren Politiker zu schützen, auch wenn keiner zu sehen war, sie befanden sich wohl alle im Gebäude oder auf Exkursion oder in den umliegenden Cafés. Offenbar hatte der Mann mit Pferdeschwanz und Schnurrbart an der Museumsgarderobe auch eine grifflose Aktentasche abgeholt, vermutlich hatte er seinen Block darin verstaut, er trug sie unterm Arm und ging schnellen Schrittes, selbstsicher, den Blick gerade oder auf Höhe des Menschen, er sah seine Umgebung und die Leute, denen er begegnete, offen an, ganz in der Nähe des Lhardy erschrak ich ein wenig, denn er verlangsamte seinen Schritt und drehte den Kopf, um den Beinen einer jungen Frau hinterherzusehen, mit der er fast zusammengestoßen war, ich fragte mich, ob mit Absicht. Ich hatte Angst, daß er mich erkennen könnte, von vorher im Prado, meine ich. Ein sehr spanisches Verhalten war das, auch mir unterläuft es manchmal, wenn es mir in London passierte, hatte ich immer das Gefühl, der einzige zu sein, in Madrid nicht so sehr, obwohl wir immer weniger werden, die Männer, die es wagen, anzusehen, was sie wollen, vor allem wenn wir nicht angesehen werden oder wenn das, was wir ansehen, mit dem Rücken zu uns steht, und wir somit weder stören noch belästigen, in dieser Zeit, die so unfrei ist, daß die Puritaner sogar die Unterdrückung der Augen immer weiter durchsetzen können, die doch so häufig dem Willen entzogen sind. Custardoys Blick war schnell, anerkennend und dreist, die schweren schwarzen Murmeln, aus denen er kam, intensiv und beunruhigend, ohne Wimpern und auseinanderstehend, paßten mehr oder weniger zu dem, was mir Cristina über Custardoys visuelles Ergreifen der Frauen erzählt hatte; aber vielleicht war das nicht so ernstzunehmen, ich selbst sehe bisweilen auf ähnliche Weise einem Hintern und einem Paar Beine hinterher, möglicherweise mit weniger durchdringenden und taxierenden Augen, eher ironisch oder festlich. Aus den seinen lief schier der Speichel.
Wenn er an der zerstörten Puerta del Sol weiter geradeaus ging, wenn er nicht in die U-Bahn stieg oder abbog oder einen Bus oder ein Taxi nahm, wären wir auf dem richtigen Weg, ich meine zu Custardoys Wohnung oder Werkstatt oder Atelier, und dann wäre er ohne Zweifel er. Als er am Anfang der Calle Mayor die Straßenseite wechselte, fürchtete ich, er könnte von der Strecke abkommen, beruhigte mich aber sofort wieder, als ich sah, daß er nur in eine Buchhandlung wollte; sie machte einen seriösen Eindruck, Méndez war der Name. Ich beobachtete von der anderen Straßenseite durchs Schaufenster hindurch, wie er die Inhaber oder Verkäufer herzlich begrüßte (für jeden ein Klaps auf den Arm; und er war erneut zivilisiert genug, den Hut abzulegen, immerhin), er scherzte wohl mit ihnen, denn die beiden lachten herzhaft, ein großzügiges, spontanes Lachen. Nach einigen Minuten kam er mit einer Tüte aus der Buchhandlung, er hatte etwas gekauft, und ich fragte mich, was er wohl las, da kam er zurück auf meine Seite des Gehsteigs, ich tat also mehrere Schritte nach hinten, bis die Entfernung wiederhergestellt war, die ich seit dem Verlassen des Museums einhielt. Doch gleich mußte ich wieder stehenbleiben und an einem Automaten gemächlich Geld abheben, um Zeit zu gewinnen und ihn nicht zu überholen, denn er hatte eine Bekannte oder Freundin getroffen, eine junge Frau in Hosen und mit kurzen Haaren und in einer Wildlederjacke mit Fransen à la Daniel Boone oder Davy Crockett oder General Custer, als er aufgespießt wurde, ich sah, daß sie blaue Augen hatte. Sie schenkte ihm ein offenes Lächeln und drückte ihm zwei Küsse auf die Wangen, offensichtlich wohnte er im Viertel; sie unterhielten sich ein paar Minuten lang angeregt, der Mann war wohl vielen sympathisch (diesmal hatte er den Hut nicht abgenommen, aber er hatte, als er die junge Frau erblickte, wenigstens mit den Fingern an die Krempe getippt, die klassische Respektsbekundung auf
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