Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
auszusetzen, wie begreiflich ist es, daß wir fast alle übergehen, was wir erblicken und erraten und vorwegnehmen und wittern, und daß wir in den Abfalleimer der Einbildungen werfen, was uns für einen Augenblick klar erscheint, bevor es sich in unserer Seele festsetzen kann und sie uns für alle Zeit verstört hinterläßt, und so ist nichts Besonderes daran, daß wir nicht bereit sind, irgendein Gesicht zu erkennen, weder heute noch morgen noch gestern. ›Wie ist jetzt das meine‹, fragte ich mich. ›Wie ist das von Luisa, das ich in jeder Hinsicht und von oben bis unten entziffert zu haben glaubte, von der Vergangenheit bis zur Zukunft und vom Morgen zum Gestern, und da kommt dieser Dreckskerl daher und erzählt mir etwas über ihre sexuellen Neigungen und behauptet, sie würde ihn im Bett dazu auffordern, sie zu prügeln, ein Witz, ich darf ihm nicht glauben und mir darüber nicht einmal Fragen stellen, aber Menschen ändern sich und vor allem, sie entdecken Dinge, die vermaledeiten Entdeckungen, die sie uns entreißen und sie weit weg führen, mit der jungen Pérez Nuix habe ich die Lust entdeckt, so zu tun, als täte man nicht, was man tut, oder vorzugeben, daß nicht geschieht, was gerade geschieht, was, glaube ich, nicht dasselbe ist, das war ein politisches Manöver, ein stillschweigendes Spiel, aber genau das würde mir dieses Schwein auch sagen, daß alles ein Spiel ist, ein erotisches Spiel, wäre dieser Drecksack doch nie geboren, alles ist möglich, aber das kann nicht sein. Luisas blaues Auge war kein Spiel, von wegen, und doch hat Custardoy gesagt: »Na klar. Was wohl. Die Schläge«, warum hat er in der Mehrzahl gesprochen, wenn für mich nur einer sichtbar war, wer weiß, ob sie unter dem Kleid noch mehr Spuren trägt, am Körper, bei diesem Besuch habe ich Luisa nicht nackt gesehen, und das werde ich auch nicht, bestimmt sehe ich sie nie wieder so und dieser Dreckskerl schon, außer, ich hindere ihn daran und lasse ihn von der Bildfläche verschwinden, jetzt gleich und für immer, ohne Widerruf und ohne weiteres Warten, don’t ever linger or delay, die Waffe wieder durchgeladen und auf den Abzug gedrückt, man braucht nur die Hand über das Schloß gleiten zu lassen und einen Finger zu bewegen, so und so, vor und zurück und eine Kugel in die Stirn und Schluß, ich trage die Handschuhe, für immer von der Bildfläche verschwunden, und mit den Schlägen ist auch Schluß, mit dem Bett und den Scherzen und Späßen, alles liegt in meiner Hand und ich muß ihn nicht einmal anhören oder noch etwas zu ihm sagen.‹
Und ja, ich spannte den Hahn, lud die Waffe durch, und zum ersten Mal führte ich den Zeigefinger vom Abzugbügel zum Abzug, ich erinnerte mich, was Miquelín mir geraten hatte, und glaubte, daß ich die Vorgabe erfüllte: ›Leg niemals den Finger an den Abzug, bevor du nicht ganz sicher bist, daß du schießen willst‹. Und das war ich, das war ich, das war ich einige Sekunden lang – eins, zwei, drei, vier, fünf; und sechs –, und dann nicht mehr. Ich weiß nicht, was ihn damals gerettet hat, Schweigen war es nicht, oder es waren vielleicht mehrere Faktoren – Gedanken, Erinnerungen und ein Einsehen –, alle auf sechs Sekunden zusammengedrängt, oder vielleicht waren es sieben, es kann auch sein, daß einige mir erst später kamen und dadurch mehr Zeit hatten, gedacht oder erinnert zu werden, zurück im Hotel. ›Wie ist mein Gesicht jetzt‹, dachte ich erneut. ›Es schließt sich dem von so vielen Männern und nicht so vielen Frauen an, die das Leben eines anderen in ihren Händen hatten, und gleich kann es sich auch denen anschließen, die es ihnen nahmen. Nicht dem von Reresby, der De la Garza sein Leben am Ende nicht entrissen hat, und wenn er anderen ein Ende gesetzt haben sollte, so ist das nicht in meiner Anwesenheit geschehen, wie bei Wheeler mit seinen Cholera- und Malaria- und Pesterregern. Aber sehr wohl dem des verqueren Mannes aus Málaga, der in Ronda Marés als Stier behandelte und ins Herz stach, und dem der Frau aus Madrid, die in der Straßenbahn damit prahlte, daß sie ein Kind an die Wand geklatscht habe, und dem der Milizionäre, die in einem Straßengraben meinen Onkel Alfonso umbrachten, als er noch sehr jung war, und sogar denen von Orlow und Bielow und Carlos Contreras, die Andreu Nin in Alcalá folterten und ihm vielleicht bei lebendigem Leib die Haut abzogen; dem des Vicomte de La Barthe, der an den Stränden dem Gemälde zufolge Torrijos und
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