Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
dem Daumen und Zeigefinger an der Unterlippe entlang, die Geste war sehr typisch für ihn, er strich, er rieb sich dann fast über die Stelle, und es war eine Geste der Meditation. Aber ihn so zu sehen, wie er kaum mit mir redete, aus diesem seltsamen Warten heraus, so daß ich die Unterhaltung für ihn führte und ihm wenige Worte entrang, mir das Gehirn nach Fragen und Gesprächsthemen zermarternd, die ihn dazu bringen könnten, zu reagieren und munter zu werden, ohne daß an den Tag trat oder hervorsprudelte, worauf sich seine Meditation bezog, wie es sonst seine Art gewesen war, das verursachte mir erhebliche Beklommenheit; auf einmal erschien er mir so undurchdringlich, wie Babys es sind, die doch auch etwas über diejenigen denken müssen, die sie umgeben, da sie nun einmal dazu befähigt sind, aber es gibt nie die geringste Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was ihnen durch den Kopf geht.
»Woran denkst du?« fragte ich schließlich nach mehreren gescheiterten Versuchen, ihn für Nachrichten und Ereignisse der letzten Zeit zu interessieren.
»An die Cousins«, gab er zurück.
»An welche Cousins?«
»Na, an welche wohl. An meine.«
»Aber du hast doch gar keine, du hattest noch nie Cousins«, versetzte ich etwas alarmiert.
Er hielt inne, als führte er eine geistige Korrektur durch, und überspielte den Lapsus dann, er beharrte nicht darauf, sondern antwortete erneut, als wäre es zum ersten Mal.
»An meinen Onkel Víctor«, sagte er. »Sagt ihm, er soll bitte meinem Vater Bescheid geben, daß ich mich jetzt auf den Heimweg mache.«
Einen Onkel Víctor hatte er schon gehabt, doch er und mein Großvater waren seit vielen Jahren tot, seit so vielen, daß ich sie nicht einmal kennengelernt hatte, keinen von beiden. Das war das erste Mal, daß ihm sein Kopf einen Streich spielte, zumindest in meiner Anwesenheit. Vielleicht ist der Ausdruck nicht richtig, und was ihm einen Streich gespielt hatte, war die Zeit, die möglicherweise nie ganz vergeht, auch wenn wir oft das Gegenteil glauben, so wie wir auch nie ganz aufhören zu sein, die wir gewesen sind, und nicht selten rutscht man auf derart lebendige Weise in die Vergangenheit, daß diese sich neben die Gegenwart stellt, vor allem, wenn es sich um die Gegenwart eines alten Mannes handelt, die ihm wenig bietet und nicht abwechslungsreich ist mit ihren ununterscheidbaren Tagen. Wer ohne Ungeduld wartet oder ohne zu wissen, worauf, der hat Gründe, sich in die Zeit zurückzubegeben, die ihm am liebsten ist oder am besten paßt, das Heute kümmert sich nicht um ihn, und er hat das Recht, sich seinerseits nicht ums Heute zu kümmern, und so besteht kein Grund zur wechselseitigen Beschwerde.
»Aber dein Vater ist doch schon sehr lange tot«, verbesserte ich ihn abermals, »und dein Onkel Víctor auch.«
Wieder beharrte er nicht darauf, sondern sagte diesmal:
»Ich weiß schon, daß sie tot sind. Du bringst mir vielleicht Neuigkeiten, Jacobo.« Und er lachte nachsichtig, als wäre ich es, der Unsinn redete.
Vielleicht kam und ging mein Vater jetzt mit enormer Leichtigkeit und Schnelligkeit durch die Zeit. Vielleicht war er immer mehr Herr über die Zeit und hatte die Uhr in der Hand, seine eigene oder die seines Daseins, und während er sie gemessen fortschreiten sah, reiste er nach Gutdünken. Womöglich ist dies das einzige, was sehr alten Menschen wirklich bleibt – vor allem, wenn sie keine schlauen Alten sind wie Wheeler: Wenn sie sich nicht mehr darum bemühen, die Leere zu füllen, Ablösung oder Nachfolger zu suchen für die vielen im Laufe ihres Lebens verlorenen Gestalten; und nicht mehr teilhaben an diesem Mechanismus und dieser Bewegung, an dieser ständigen, universalen Rotation – die aller und damit auch die unsere –, dann hören sie auf, sich weitere Imitate zu holen und sich mit ihnen zu umgeben, um dafür die ursprünglichen Begleiter in ihrer ganzen Fülle zurückzugewinnen. Sie brauchen das Leben nicht mehr, das schlaff und blaß und ausweichend ist, sondern nur noch das Denken, das für sie immer kraftvoller und klarer und umfassender wird, da sie bis auf kurze Phasen nicht mehr im Austausch mit der Wirklichkeit zu leben brauchen.
»Du hast doch eine Pistole, oder?« Auf einmal fiel mir diese Frage ein. Wenn er starb, würde sie auftauchen, und es war zu befürchten, daß das nicht viel länger auf sich warten ließ; und einer von uns, meine Brüder, meine Schwester oder ich, würde sie erben, wie Miquelín von seinem Vater die
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