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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Kinder, sobald sie verständig genug waren, allerlei gelehrt, man spricht ja nicht umsonst von Verstand. Dinge, die ihnen nützlich sein konnten, wenn sie größer waren. Man verlor nämlich nie aus den Augen, daß ein Kind dereinst erwachsen sein würde. Nicht wie jetzt, wo man es eher darauf anlegt, daß die Erwachsenen bis ins Greisenalter Kinder bleiben, und dumme, wankelmütige noch dazu. Deshalb gibt es überall so viel Dämlichkeit.« Er führte die Finger an Lippen und brummte: »Es ist traurig, einer Epoche der Dekadenz beizuwohnen, wenn man andere, weitaus intelligentere kennengelernt hat, ich weiß nicht, wohin das noch führen soll. Das wird einer der Gründe sein, aus denen ich meinen Fortgang nicht allzusehr bedauern werde. Und der ist nahe, mir scheint, daß dir das nicht entgeht.«
    »Vielleicht nicht ganz so, wer weiß«, gab ich zurück. »Am Ende überlebst du uns noch alle. Die Reihenfolge des Sterbens kennt niemand, stimmt’s?« Und da er mir nicht antwortete, hakte ich nach: »Stimmt’s?«
    »Stimmt«, räumte er ein. »Aber es gibt da eine Methode, die sich Wahrscheinlichkeitsrechnung nennt und die ziemlich genau funktioniert. Es wäre eine unnötige Grausamkeit, wenn zu diesem Zeitpunkt meines Lebens einer von euch früher sterben würde als ich. Und zwar für euch, vor allem aber für mich. Da sei Gott vor.« Ich an seiner Stelle hätte auf Holz geklopft. Nicht weil ich an Holz glaubte, sondern um meinem Wunsch Nachdruck zu verleihen.
    Unser Gespräch hatte eine melancholische Wendung genommen, und gerade das galt es ihm zu ersparen, indem man irgendeine Frage oder ein Gesprächsthema aufbrachte, das ihn ablenkte: von seinem Warten auf die Nacht und seinem Warten auf den Tag, und vom folgenden Warten auf die Nacht und den Tag, bis es sie nicht mehr geben würde. Es war mein letzter Besuch vor der Rückreise nach London, es würde einige Zeit vergehen, bis ich wieder nach Madrid kam. ›Vielleicht werde ich ihn nicht wiedersehen‹, dachte ich und empfand, was ich spontan als desmayo , als Ohnmacht bezeichnet hätte. (Nein, das Englische schlich sich in mein Spanisch ein, nicht desmayo empfand ich, sondern dismay, das heißt, ich war bestürzt.) Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, das mochte er und es beruhigte ihn, doch diesmal tat ich es, um mich selbst zu beruhigen, um seine Knochen zu spüren und mich von seinem Atem begleitet zu fühlen.
    »Aber was wolltest du mir eigentlich sagen?« Ich kehrte an den Ausgangspunkt zurück, zu dem Thema, das ihn wachgemacht und ein wenig unterhalten hatte. »Daß deine Pistole aus der Sammlung deines Vaters stammt?«
    »Nein, woher denn. Die Sammlung löste sich nach und nach auf, vor Ewigkeiten, als die mageren Jahre kamen. Mein Vater machte große Geschäfte, und dann warf er in seiner Euphorie die Gewinne zum Fenster hinaus, er investierte in allerlei Unfug, ihr wißt das ja schon. Später erholte er sich wieder mehr oder minder, wenn er zur Vernunft kam, bis eines Tages keine Erholung mehr möglich war. Die wenigen Waffen, die er noch hatte, wurden bei Ausbruch des Bürgerkriegs verkauft, genau wie die Uhrensammlung. Und ich weiß nicht, ob ihm nicht auch die eine oder andere konfisziert wurde.«
    »Und was ist dann mit der Pistole?«
    »Ach, die habe ich seit dem Krieg, eine Astra De Luxe, Kaliber 7 . 65 . Sie ist recht hübsch, dafür, daß es sich um ein spanisches Fabrikat handelt, vielleicht ein wenig zu üppig verziert: In den Lauf ist ein Silberrelief eingraviert, und der Griff hat Schalen aus Elfenbein. Warum willst du das wissen?«
    »Einfach so, aus Neugier. Darf ich sie mal sehen? Ich habe sie nie in der Hand gehabt. Wo hast du sie?«
    »Das weiß ich gar nicht«, antwortete er ohne zu zögern, und es klang mir nicht nach einer Ausrede, um mir die Waffe nicht zu zeigen. »Das letzte Mal habe ich sie vor Jahren in Händen gehabt, ich hatte damals beschlossen, sie besser irgendwo zu verstecken, damit die Enkelkinder sie nicht finden können, wenn sie kommen und überall herumstöbern. Auf euch hat ja eure Mutter achtgegeben, aber sie ist nicht mehr hier. Und da habe ich die Pistole wohl so gut verwahrt, daß ich jetzt keine Ahnung habe, wo sie stecken mag. Ich habe es vergessen. Munition war auch dabei, alles gut erhalten, gut eingeölt. Wofür willst du sie?« Es war merkwürdig, es war, als merkte er, daß ich sie für mich wollte. Exakt traf das nicht zu, ich hatte meinen Teil schon mit einer anderen, geliehenen getan, ich hatte

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