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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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keinen Bedarf mehr. Aber sie in der Tasche zu haben, gab Sicherheit.
    »Nein, ich will sie für gar nichts«, sagte ich. »Das war nur aus Neugier gefragt. Wie kommt es, daß du das Risiko eingegangen bist, sie nach dem Krieg zu behalten? Wenn man sie während der Francozeit bei dir gefunden hätte, bei einer Hausdurchsuchung, hättest du bestimmt gewaltigen Ärger bekommen, zumal du ja aktenkundig warst. Warum hast du sie behalten? Warum hast du sie immer noch, selbst wenn du nicht mehr weißt, wo?«
    Mein Vater verharrte einen Moment schweigend. Vielleicht, weil ihm die Antwort schwerfiel, vielleicht, weil er seine Worte gut abwägen wollte, ich weiß es nicht. Schließlich sagte er knapp: »Man kann nie wissen.«
    »Was kann man nie wissen?«
    »Was man brauchen wird.«
    Er hatte immer erzählt, daß er während des Kriegs – in einer Hinsicht – Glück gehabt habe, in Madrid geblieben zu sein, wo er aufgrund seiner Kurzsichtigkeit zu Hilfsdiensten abgestellt war. Und obwohl er die Uniform der Republikanischen Armee getragen hatte, hatte er nicht an die Front ziehen oder auch nur einen einzigen Schuß abgeben müssen. Er sagte immer, wie glücklich er darüber sei, das heißt darüber, daß er absolut sicher sein könne, niemals jemanden getötet haben zu können . Ich rief ihm das ins Gedächtnis:
    »Du hast immer gesagt, wie froh du seist, mit Sicherheit zu wissen, daß du im Krieg niemanden getötet hast, daß es dazu keine Gelegenheit gegeben habe. Das widerspricht sich ein wenig damit, später eine Pistole zu Hause aufzubewahren, als die Dinge so arg nicht lagen. Ich meine, als das Leben weniger gefährlich und weniger chaotisch war, wobei in einer Diktatur natürlich auch niemand in Sicherheit ist. Wie kommt es, daß du sie nicht abgegeben oder dich ihrer entledigt hast?«
    »Weil man nie wissen kann, wenn man mal einen Krieg mitgemacht hat«, wiederholte er. Und er verstummte, stützte aber die Hände auf die Armlehnen des Sessels, als nähme er Anlauf, um noch etwas hinzuzufügen. Ich wartete also. Und tatsächlich sagte er noch etwas dazu: »Ja, ich bin sehr froh darüber, niemanden getötet zu haben. Aber das bedeutet nicht, daß ich es nicht getan hätte, wenn mir keine andere Wahl geblieben wäre. Wenn ihr oder eure Mutter in Lebensgefahr geschwebt hättet, und ich hätte etwas dagegen unternehmen können, dann hätte ich es getan, da bin ich sicher. Als ihr noch klein wart, meine ich, jetzt könnt ihr euch ja wehren, da ist das etwas anderes. Jetzt würde ich vermutlich nicht mehr für euch töten. Nicht nur, daß ich dazu nicht imstande wäre, du siehst ja, in welchem Zustand ich bin, ihr könnt das auch selber machen. Ihr braucht mich dafür nicht. Und außerdem würde ich nicht wissen, ob ihr es verdient hättet, jeder von euch lebt sein eigenes Leben, und ich weiß nicht, worauf ihr es verwendet. Früher war das anders, früher wußte ich alles über euch, als ihr noch klein wart und hier bei mir. Ich verfügte über alle relevanten Informationen, jetzt nicht mehr. Es ist seltsam, daß die Kinder zu halben Unbekannten werden, viele Eltern wollen das nicht wahrhaben und stellen sich in jedem Fall hinter sie, sogar gegen alle Beweise. Ich kenne den, der du gewesen bist, und ich glaube ihn in dir wiederzuerkennen. Aber eigentlich kenne ich dich nicht so, wie ich ihn kannte, überhaupt nicht; und bei deinen Geschwistern verhält es sich ebenso. Eure Mutter dagegen habe ich bis zum Schluß gekannt, für sie hätte ich sehr wohl bis zum Schluß getötet.« Jetzt arbeiteten sein Kopf und sein Zeitgefühl ausgezeichnet, und nachdem er eine winzige Pause eingelegt hatte, um die Nebenbemerkung abzuschließen, kehrte er zum vorherigen Thema zurück: »Man kann einfach wirklich nie wissen, und es ist denkbar, daß man eines Tages von einer Pistole Gebrauch machen muß. Schau, was in Europa im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Lange Zeit wußten wir nicht, ob er sich bis hierher ausbreiten würde, trotz Francos Versprechungen – was waren die schon wert – und seiner Hinhalterei und seinen Ausflüchten gegenüber Hitler. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, daß man in diesem Krieg alle Mittel einsetzen mußte, niemand konnte auch nur eine Patrone aufsparen, ob sauber oder schmutzig. Der Zweite Weltkrieg war in gewisser Weise viel schlimmer als unser Bürgerkrieg. In anderer natürlich weniger schlimm. In qualitativer Hinsicht war der hier schlimmer.« Er hielt erneut inne und sah mich noch fester an, wobei ich

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