Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
beiden Verse aus dem Lied von Laredo in den Sinn: ›Aber kein Wort davon darfst du erwähnen, ich bitte dich, wenn andere von dir meine Geschichte hören wollen.‹
Custardoy riß seine wilden Augen ein wenig weiter auf, er wirkte schlagartig gealtert, als hätte die sofortige Müdigkeit, das Ergebnis der Erleichterung, ihn auf einmal zehn Jahre älter werden lassen. Er strich sich ganz vorsichtig über die verletzte Hand, er konnte es wohl kaum erwarten, mich endlich aus den Augen zu verlieren und einen Arzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen, damit sie ihn irgendwie von dem Schmerz befreiten.
»Ich bin keiner, der heiratet, ich bin nicht wie du«, antwortete er mir mit einem kümmerlichen, fast unmerklichen Rest von Geringschätzung. Aber ich nahm ihn war. Es machte mir nichts aus, das war das mindeste, was er an Genugtuung bekommen konnte. Er wußte nicht, daß ich genauso war wie er, auch wenn ich geheiratet hatte, gegen die Vorhersage meines Vaters. »Noch etwas?«
»Eine halbe Stunde hältst du still, ich hab’s dir schon gesagt, du rührst dich nicht und rufst niemanden an. Du läßt ab sofort die Finger von ihr. Du siehst sie nicht wieder. Wenn du dich nicht daran hältst, werde ich es erfahren, und London ist zwei Stunden von hier, ich kann jederzeit herkommen und dir die Hand abschneiden, es liegt ganz bei dir.«
Ich warf den Schürhaken in den Kamin, ein wenig Blut klebte daran, sollte Custardoy ihn saubermachen. Ich warf die dritte Kugel aus, die ich am Ende nicht verwendet hatte, steckte die Llama in die Tasche meines Trenchcoats und ging zur Tür, ohne ihn aus den Augen zu lassen, bis er aus meinem Gesichtsfeld verschwunden war. Da saß er auf seinem Sofa, mit seiner zerknitterten Kleidung und seiner zertrümmerten Hand und seinem Schmiß im Gesicht. Doch er hielt jetzt meinem Blick stand, trotz seiner plötzlichen Erschöpfung, des jähen Alterns, das ihn überkommen hatte. Nie hat mich jemand so haßerfüllt angesehen. Dennoch fürchtete ich nicht, daß er etwas versuchen könnte, etwa sich auf den Schürhaken zu stürzen und ihn mir von hinten in den Nacken zu schlagen. Er hatte allzu große Gefahr verspürt, als daß er das riskiert hätte, es war ihm schon schlimm genug ergangen. Was er empfand, war ein ohnmächtiger und folgenloser, unwirksamer Haß, von Furcht oder Schrecken gefärbt; oder Custardoy war wie die Kinder, die sich dazu verurteilt wissen, in ihren unstimmigen Kinderkörpern zu verharren, zu einem vergeblichen Warten gezwungen, das sie verrückt macht, das sie jedoch nicht mehr als eigenes in Erinnerung haben werden, wenn sie endlich groß sind. Er sah mich in dem Wissen an, daß ich mich außerhalb seiner Reichweite befand und daß dies für lange Zeit so bleiben würde, vielleicht für immer: wie ein zorniger Jugendlicher, der das schnelle Dahinziehen der Welt betrachtet, auf die aufzuspringen ihm noch nicht erlaubt ist; oder wie der Gefangene, der weiß, daß niemand wartet oder sich etwas versagt, weil er nicht da ist, und daß mit der dahineilenden Welt auch seine Zeit vergeht, wogegen er nichts unternehmen kann; und das wissen auch diejenigen, die sterben, nur auf tragischere Weise.
Als ich das Wohnzimmer verließ, verlor ich ihn aus den Augen. Er folgte mir so lange mit seinem von Haß getrübten Blick, und es ist möglich, daß er ihn noch für einige Sekunden auf die Tür geheftet hielt, an der meine behandschuhte Gestalt ihm Lebwohl gewunken hatte. Er würde etwas Zeit brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, was er zu tun hatte. Dann würde es ihm schwerfallen zu glauben, was ihm widerfahren war, aber er hatte dafür eine gute Erinnerungsstütze, oder zwei, er würde nun an Hand und Wange spüren, was Luisa an ihrem tausendfarbigen Auge gespürt haben mochte und davor schon im Gesicht, nach Auskunft ihrer Schwester. Viele Tage lang würde er die Entwicklung seiner Narbe beobachten können und seinen kleinen Knochen wünschen, daß sie gut zusammenwuchsen unter dem Gips oder was da heutzutage verwendet wird, wenn er nicht gar operiert werden mußte. Manchmal würde er auch seine heile Hand ansehen, und vielleicht würde er denken: ›Was für ein Glück, wenigstens ist die noch ganz.‹ Und er würde sich an das zylinderförmige Metall an der Schläfe erinnern, und dann würde er ebenfalls denken: ›Was für ein Glück. Er hätte abdrücken können, ich habe schon gedacht, er tut es. Aber man zieht es immer vor, daß derjenige stirbt, der neben einem ist, da
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