Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
careless talk, die Wheeler mir gezeigt hatte: Wie konnte der Seemann, der seiner Braut etwas erzählt hatte, ahnen, daß dies zum Untergang eines Schiffs voller Landsleute führen würde. Eigentlich kann man nie wissen, ob man unbelastet Lebwohl sagt. Doch da fiel mir etwas wieder ein, und ich dachte, daß diese Erinnerung ihm helfen würde, sich zu überzeugen.
»Du hast mir zum Beispiel nicht den Namen des Schriftstellers nennen wollen, der dabeiwar, als dein Freund Marés als Stier behandelt wurde«, sagte ich ihm. »Und du hattest eigentlich keinen Grund, das zu verschweigen. Nicht einmal nur mir gegenüber, sondern überhaupt.«
Er stutzte ein wenig überrascht, als hätte er ganz vergessen, mir davon erzählt zu haben, vor langer Zeit, als ich noch in Madrid lebte. Und was er anschließend zu mir sagte, bestätigte den Eindruck, daß er gar nicht mehr wußte, daß ich über die besagte Episode auf dem laufenden war.
»Das weißt du.« Es klang wie eine Mischung aus Feststellung und Frage.
»Ja. Du hast mir mal davon erzählt.«
»Und ich wollte nicht, ja?« Jetzt war es nur noch eine Frage. »Ich wollte dir nicht sagen, wie er hieß, richtig?«
»Nein. Wegen seiner Frau und seiner Töchter. Du sagtest, du wollest nicht riskieren, daß jemand eines Tages das Thema aufgreifen und es ihnen unter die Nase reiben könnte, durch dein indirektes Verschulden. Wobei seine Frau auch schon tot ist, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, sie sind beide gestorben, er und sie. Aber das ändert nichts.« Und er murmelte mehr für sich als zu mir: »Ich wollte nicht, sagst du. Gut gemacht, nicht zu wollen, gut gemacht …«
Er verfiel in Nachdenken, und wieder trat in seine blauen Augen der feste und intensive Blick, mit dem er mich sozusagen nicht sah. Und nach wenigen Sekunden bekam ich das Gefühl, das Zurückdenken an jene Personen hätte ihn erneut in eine ferne Zeit versetzt, in der meine Mutter noch lebte und die fröhliche und herzensgute Frau jenes niederträchtigen Mannes sich uns gegenüber sehr gut verhielt, besonders ihr gegenüber. Ich ließ zwei oder drei Minuten in Stille verstreichen. Er hatte aufgehört zu reden, und er kam mir müde vor. Vielleicht war es an der Zeit zu gehen, auch wenn es das letzte Mal sein sollte, daß wir uns sahen.
»Ich mache mich dann mal auf den Weg, Papa«, sagte ich, stand auf und gab ihm einen Kuß auf die Stirn.
»Wohin?« fragte er erstaunt, als schiene es ihm abwegig, daß ich oder irgendeines seiner Kinder irgendwohin ginge.
»Ins Hotel, und morgen früh fliege ich schon nach London zurück.«
»Verreist du? Dann alles Gute, mein Sohn.«
»Ich lebe jetzt dort, Papa. Weißt du nicht mehr?«
»Du lebst im Exil?« sagte er, ohne das Wort mit der geringsten Feierlichkeit auszustatten. »Wie die griechischen Götter.«
»Die griechischen Götter?« Ich wußte nicht, worauf er sich damit bezog oder was die Bemerkung überhaupt sollte. Aber er hat nie wirr geredet oder ich habe es nie miterlebt. Die Zeit und die Personen und die Umstände konnte er außer acht lassen, aber sein Denken und sein Gedächtnis haben immer funktioniert, wenn auch zum Schluß in überaus eigenwilliger Weise. Wobei es auf der ganzen Welt kein Denken und kein Gedächtnis gibt, das nicht gerade so funktionierte.
»Erinnerst du dich nicht an das Heine-Gedicht?« fragte er und fing dann an, Verse auf deutsch zu zitieren. Er hatte die Sprache als Junge gelernt, auf dem Gymnasium, was in den zwanziger Jahren durchaus möglich war, heute aber unvorstellbar ist, und er hatte sich immer etwas darauf zugute gehalten, daß er ganze Gedichte auswendig konnte, von Goethe, von Novalis, von Hölderlin, von den Klassikern.
»Nein, Papa«, unterbrach ich ihn, »ich kann mich nicht an etwas erinnern, was ich nie gekannt habe, und ich verstehe nicht, was du da sagst. Ich habe nie Deutsch gelernt, weißt du das nicht mehr?«
»Du hast nie Deutsch gelernt, na so was«, antwortete er mit einem Anflug von väterlicher Geringschätzung, als wäre diese Wissenslücke eine Seltsamkeit, fast ein Makel. »Ich weiß nicht, was ihr für eine Erziehung genossen habt.« Und mit Herablassung mir gegenüber und Enthusiasmus für das Gedicht seiner Jugend hob er an, mir zu erläutern: »Der Dichter sieht mitten in der Nacht einige weiße Wolken, die ihm erscheinen ›wie kolossale Götterbilder von leuchtendem Marmor‹, so heißt es wörtlich. Doch gleich merkt er, daß es sich in Wirklichkeit um die Götter selbst handelt,
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