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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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das Gefühl hatte, daß er in jenem Moment gar nicht mich sah, sein Blick war wie der eines Blinden, ohne Distanzgefühl. Ich spürte, daß er sich anschickte, etwas zu sagen, das ihn Erregung versetzte: »Aber was mich am meisten erleichtert, Jacobo, das ist, daß niemand wegen etwas sterben mußte, das ich gesagt oder erzählt hätte. Wenn man jemandem eine Kugel verpaßt, an der Front oder um sich zu verteidigen, so ist das schlimm, aber man kann damit weiterleben und verliert deshalb nicht den Anstand und die Menschlichkeit, nicht unbedingt. Aber wenn jemand stirbt, weil man etwas erzählt oder noch schlimmer, weil man etwas erfunden hat; wenn man Schuld daran trägt, daß jemand ohne Not stirbt; wenn dieser Mensch noch am Leben wäre, so man nur geschwiegen hätte; wenn man geredet hat, als man hätte still sein müssen oder können, und damit einen Tod verursacht hat oder mehrere … damit, glaube ich, kann man nicht leben, obwohl viele es doch tun oder den Anschein erwecken, es wäre so.« ›Früher mag das so gewesen sein‹, hatte ich Zeit zu denken, oder ich dachte es später auf dem Rückflug nach London, als ich mich an unser Gespräch erinnerte; ›mein Vater hat noch eine Welt im Sinn, in der Handlungen Spuren hinterließen und das Gewissen zu einem sprach. Nicht immer, versteht sich, aber doch bei den meisten. Jetzt verhält es sich umgekehrt: Es zum Schweigen zu bringen oder ihm einen Knebel anzulegen bereitet keinerlei Mühe, oder es ist nicht einmal notwendig; noch leichter ist, das Gewissen davon zu überzeugen, daß es gar keinen Grund zum Sprechen hat. Heute geht der Trend dahin, sich unschuldig zu fühlen, für alles eine unmittelbare Rechtfertigung zu finden, keine Rechenschaft abzulegen und das zu tun, was man auf spanisch ›cargarse de razón‹ nennt – ›sich mit Recht beladen‹ –, ich weiß nicht, wie man das auf englisch ausdrücken würde, aber das macht nichts, noch spreche ich diese Sprache nicht wieder unablässig, morgen wird es wieder soweit sein. Selbstverständlich kann man heute damit leben und mit noch viel schlimmeren Dingen. Diejenigen, die sich quälen, sind heutzutage die Ausnahme, altmodische Menschen, an denen die Zeit vorübergegangen ist und die denken: »Die Lanze, das Fieber, mein Schmerz, das Wort, der Traum«, und andere ebenso nutzlose Dinge.‹ Und mein Vater fuhr fort: ›Und in unserem Krieg gab es so viel davon, so viel Denunziation und so viel Vergiftung, so viele Beleidiger, so viele professionelle Verleumder und Aufwiegler, allesamt ohne Rast damit beschäftigt, Haß und Groll zu säen und zu befördern, Neid, den Wunsch nach Auslöschung, auf beiden Seiten, aber vor allem auf der der Sieger, aber auf beiden …, daß es schwer war, sich in dieser Hinsicht nicht die Hände schmutzig zu machen: Darin war es vielleicht am schwersten. Und noch schwieriger war es für diejenigen, die für eine Zeitung schrieben oder in Radiosendungen auftraten, wie ich es während des Kriegs getan habe. Du machst dir keinen Begriff davon, was für Dinge zu lesen und zu hören waren, nicht nur während jener drei Jahre, sondern auch noch in den vielen Jahren, die danach kamen. Man sprach einen einzigen Satz, und schon wurde jemand an die Wand gestellt oder in einem Straßengraben erschossen. Und trotzdem bin ich sicher, nicht ein Wort geschrieben oder gesagt zu haben, das jemandem nennenswert hätte schaden können. Und auch später habe ich das nicht getan, im strikt persönlichen Umfeld meines weiteren Lebens. Ich habe nie ein Geheimnis verraten oder eine vertrauliche Mitteilung, so unbedeutend sie auch sein mochten, und ich habe auch nichts erzählt, das ich gesehen oder gehört hatte, wenn ich damit jemandem hätte schaden können und es nicht erzählen mußte, um einen Dritten zu retten oder zu entlasten. Und siehst du, Jacobo, das ist es, was mich am meisten freut.« Mein Vater war dabei, Bilanz zu ziehen, bevor er starb, das dachte ich. Und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob es sich tatsächlich so verhielt, wie er sagte, oder ob er sich etwas vormachte, ein Mann mehr meiner Zeit als der seinen, und ob ihm irgendwann doch etwas über die Lippen gekommen sein konnte, das schreckliche Folgen gehabt hätte. Unmöglich zu wissen. Selbst für ihn war das unmöglich, man kann sich nicht an alles erinnern, als wäre man der Richter des alten festen Glaubens. Und manchmal erfahren wir schlichtweg nichts über die Folgen; ich dachte an die Zeichnungen über den

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