Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Küche, selbst in ihrer Begleitung oder besser gesagt in ihrem Schlepptau. Wir wechselten also eine Handvoll Sätze über die Kinder oder über den Zustand meines Vaters, nach dem sie sich jedesmal erkundigte, um dann aufrichtig hinzuzufügen: ›Ich muß ihn besuchen gehen, auf jeden Fall noch diese Woche, sag ihm, daß ich oft an ihn denke‹, und dann räumte ich das Feld, nicht ohne ihr vorher zwei diskret-zärtliche, das heißt fast nur freundschaftliche Küsse auf die Wangen zu geben, was sie passiv, eher mechanisch und unkonzentriert erwiderte.
Sie war in Gedanken woanders, und ich wußte, wo. Bei diesen letzten Begegnungen wirkte sie auf mich etwas geknickt. Ich kalkulierte: ›Inzwischen hat sie die Nachricht erhalten, daß sie Custardoy eine Zeitlang nicht sehen wird, eine herbe Enttäuschung, das hat sie unvorbereitet getroffen, und sie ist noch dabei, es zu verdauen, den Tagen fehlt nun ein Anreiz für sie, ohne Zweifel der größte, derjenige, der ihr am meisten dabei geholfen hat, sie zu durchqueren, freudig aufzustehen und nicht unzufrieden ins Bett zu gehen, aber sie weiß noch nicht, daß es diesen Anreiz ihr ganzes Leben lang nicht mehr geben und daß sie diesen Mann nie wiedersehen wird, oder höchstens durch eine Zufallsbegegnung; dieses Wissen wird erst später kommen, nach und nach, es werden Wochen vergehen oder vielleicht noch mehr Zeit, bis ihr klar wird, daß alles vorbei ist, daß es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt, sondern daß sie endgültig verlassen worden ist, so wie sie es vor langer Zeit mir zugefügt hat. Und dann wird sie aus dem Fenster sehen, wie ich manchmal aus meiner Guillotine die träge Nacht von London betrachte, über den Square oder Platz hinweg, das fahle Dunkel kaum erhellt durch die weißen Laternen, die das stets sparsame Licht des Mondes nachahmen, und, etwas weiter entfernt, durch die brennenden Lichter des eleganten Hotels und der bewohnten Häuser, in denen Familien oder alleinlebende Männer und Frauen wohnen, ein jeder eingeschlossen in sein schützendes, gelbes Quadrat, so wie Luisa oder ich für jeden, der uns beobachtet; und über die Bäume und die Statue hinweg mein Nachbar, der so sorglos tanzt und der mich ab jetzt an Custardoy erinnern wird, denn diese Ähnlichkeiten und Affinitäten wirken in beide Richtungen und färben ab, und niemand ist vor ihnen gefeit: Dieser tanzende und fröhliche Zeitgenosse wird mir nicht mehr sympathisch sein, er mag, ohne es zu wissen, ein Leben gerettet haben, aber er hat sich daran infiziert. Und nachdem Luisa und ich uns wiedergesehen und einander noch mehr Kummer gebracht haben, auch wenn sie nicht weiß, daß derjenige, den sie jetzt erleiden muß, von mir ausgeht, werden gewiß weder sie noch ich es wagen, weiter im stillen zu denken: ›Ich werde mehr sein, der ich bin. I’ll be more myself. Ich werde jetzt mehr ich sein.‹
Merkwürdigerweise, wenn man bedachte, daß ich der Verursacher ihrer gerade begonnenen Einsamkeit war, die weiter zunehmen würde, gestattete ich mir, ein wenig Mitleid darüber zu empfinden, daß ich sie so sah, niedergeschlagen, lustlos, ohne Schwung, vielleicht im Vorfeld eines anhaltenden Siechtums, der Verlust jener, die wir lieben, schwächt uns alle sehr, mehr noch als der jener, die uns lieben, und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Custardoy für sie zu ersteren zählte. Aber wenigstens war ich nicht so zynisch, mir einzureden, daß es zu ihrem Besten sei, obwohl das auf lange Sicht sicherlich zutraf: Mir war klar, daß es vor allem zu meinem Besten war, zu meiner relativen Ruhe, meiner fernen Gelassenheit, dafür, daß ich mir keine übermäßigen Sorgen um sie und um meine Kinder machen mußte, und auch für meine irrlichternden Hoffnungen, auf die ich noch nicht verzichten konnte, obwohl schon so viel Zeit vergangen war. Und das dachte ich schließlich doch, als ich im Flugzeug saß, mit der Klarheit, die ich bis dahin gescheut hatte: daß ich egoistisch und übergriffig und rücksichtslos gewesen war, daß ich mich auf denkbar üble Weise in ihr Leben eingemischt hatte, hinterrücks, ohne ihr Wissen, nicht nur, ohne mit ihr darüber beraten zu haben, was zu tun oder was zweckmäßig war, sondern auch ohne daß sie ihr Problem mir gegenüber überhaupt erwähnt gehabt hätte, das sie überdies nicht als Problem sah, sondern womöglich als Lösung. Ich hatte mich verhalten wie ein Vater aus dem 19 . Jahrhundert gegenüber seiner Tochter, ich hatte sie indirekt
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