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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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dafür, er konnte nicht anders.« Sie schwieg eine Sekunde lang und sagte dann: »Es ist merkwürdig, in meinem Leben wird es immer mehr Leute geben, die du nicht kennst, nicht einmal vom Hörensagen, und es würde keinen Sinn ergeben, daß ich dir von ihnen erzähle oder sie dir gegenüber erwähne. Und mir wird es umgekehrt genauso gehen. Viele Jahre lang ist das nicht so gewesen, stimmt’s?, oder nur selten. Es ist seltsam, wie man ohne besondere Mühe oder Anstrengung auf dem laufenden bleibt, wenn man zusammenlebt, und wie man dann mit einem Mal oder besser gesagt allmählich nichts mehr über die weiß, die später kommen. Über diejenigen, meine ich, die ins Leben des anderen treten. Ich weiß zum Beispiel nichts über deine Freunde in London oder über deine Kollegen, mit denen du doch wohl täglich Umgang hast. Du hast mir gesagt, ihr wärt nur eine kleine Gruppe, stimmt’s? Und eine junge Halbspanierin ist dabei, nicht wahr? Wie geht es dir dort? Ich weiß ja nicht einmal so recht, was ihr eigentlich macht.« Und während sie das sagte, streckte sie den Arm in Richtung Wohnzimmer aus, nicht als ob sie mir den Weg zur Wohnungstür wiese, damit ich mich endlich aufmachte, sondern wie um vorzuschlagen, daß wir dort einen Moment verweilten, bevor ich ging, damit ich ihr davon erzählen könnte, oder vielleicht war es auch nur, um mich sprechen zu hören. Vielleicht hatte sie begriffen, daß ich ihr helfen konnte, einige Minuten des Wartens zu überstehen oder ihr das Blei von der Seele zu nehmen, das immer weiter auf ihr lastete. Ich dachte, daß ich sie nach der Zigeunerin fragen würde, der Mutter und ihren Kindern, in gewisser Weise waren sie Leute in ihrem Leben, von denen ich noch erfahren hatte, in unserem Zusammenleben, in unserem Alltag, und an die ich in dem anderen Land auch noch gedacht hatte.
    Wir machten ein paar Schritte in besagte Richtung, sie ging voraus. Wir waren im Begriff, uns zu Hause zu unterhalten, und solange das anhielt, sollte es uns völlig natürlich vorkommen, ohne die Künstlichkeit, die sich aus einer Verabredung in einem Restaurant oder an einem anderen Ort ergeben hätte. Doch in dem Augenblick klingelte ihr Handy, auf dem andere anriefen, ich nicht, und sie lief hastig ins Wohnzimmer, sie rannte fast, dort lag es, in ihrer Handtasche, auch ich hatte meinen Trenchcoat und meine Handschuhe beim Betreten der Wohnung über der Rücklehne eines Sessels gelassen. Ich ließ sie ziehen, was sonst, ich beschleunigte meinen Schritt nicht, aber da wir zusammen gingen, hielt auch ich nicht inne oder machte halt, meine Diskretion bestand darin, nicht einzutreten, ich blieb auf der Schwelle stehen und sah mir die Bücher im Regal an, meine Bücher, die ich vielleicht bald von dort würde mitnehmen müssen, wohin, wußte ich noch nicht.
    »Ja?« hörte ich sie mit plötzlicher Leichtigkeit sagen, als ob die Stimme am anderen Ende der Leitung mit nur ein oder zwei Worten die Melancholie (oder den Kummer) von ihr genommen hätte. Das mußte Custardoy sein, der sie zum vorletzten oder drittletzten Mal anrief. »Ja. Geht es dir denn gut?« Sie machte eine Pause. »Ja, verstehe. Obwohl, ich muß schon sagen, daß du so Hals über Kopf das Weite suchst, hat mich schon sehr überrascht … Und du weißt nicht, wie lange du wegbleibst? Das ist ein bißchen komisch, oder?, daß sie dir keinen Termin nennen.« Instinktiv entfernte sie sich ein paar Schritte von mir und senkte die Stimme, damit ich möglichst wenig mitbekam. Aber da sie auch nicht so unhöflich sein wollte, mir die Türe vor der Nase zuzumachen oder in ein anderes Zimmer zu gehen, drang ihr Flüstern trotzdem an mein Ohr. Ich verpaßte einige Worte, ihren Tonfall nicht. Sie sagte nicht viel, Custardoy war es, der den Verlauf des Gesprächs vorgab, und es ging nicht lange, anscheinend hatte er es eilig (er befolgte meine Order, sich distanziert und trocken zu geben und sich kurz zu fassen). »Aber damit läßt du mich doch völlig im Dunkeln. Und ganz ausgeliefert, wenn ich dich nicht anrufen kann«, sagte Luisa fast flehentlich, wodurch sie die Stimme hob, nur um sie gleich wieder zu senken und erklärungshalber hinzuzufügen: »Jaime ist da, er ist gekommen, um sich zu verabschieden, er fliegt morgen zurück, er war schon am Gehen, ruf mich doch in fünf Minuten nochmal an, ja?« Diesmal trat eine längere Pause ein. »Nein, verstehe ich nicht, mußt du denn gleich los, jetzt sofort?« … Zwischenzeitlich bekam ich nicht mit, was

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