Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
schreiben. Sieh mal, Jaime, man kann nicht ständig Bedenken tragen, das lähmt doch nur. Man darf einfach nicht so zimperlich sein und außerdem, übertreib doch nicht, was willst du denn, in unserem Metier gibt es Leute, die noch viel schlimmere Sachen anstellen und sich wirklich die Finger schmutzig machen. Oder die bessere Taten vollbringen, wie man’s nimmt, schließlich handeln sie im Dienst ihres Landes.« Wir sprachen auf spanisch, man mußte ihr dankbar sein, daß sie nicht ›des Vaterlandes‹ sagte. Der Ausdruck glich allzusehr einem der ersten, die ich von Tupra gehört hatte, bei dem kalten Abendessen bei Wheeler. Vielleicht machte er Schule bei denen, die lange an seiner Seite verweilten, ich würde nicht dazugehören. Aber Pérez Nuix sprach ihren Satz in einem derart neutralen Ton aus, daß ich nicht erkennen konnte, ob sie ihn im Ernst sagte oder ob sie unseren Chef nur sarkastisch zitierte.
»Sag bloß nicht, man hätte diesem Land mit der Verhaftung von Dearlove, damit, daß man ihn für viele Jahre hinter Gitter schickt oder daß er dort nach drei Tagen umgebracht wird, einen Dienst erwiesen. Oder mit dem Tod dieses russischen Jungen, gut möglich, daß er gerade erst angekommen war und sich illegal hier aufhielt, da wird keiner groß nachforschen oder sich beschweren. Wie hast du das genannt, ein instrumentelles Opfer? Ich dachte, heute nennt man das Kollateralschaden. Obwohl auf spanisch › Lateral-‹ genügen würde.« Ich konnte der Versuchung zu dieser pedantischen Anmerkung nicht widerstehen.
»Das ist nicht dasselbe, Jaime«, berichtigte sie mich. »Kollateral- oder Lateralschäden werden in der Regel nicht willentlich in Kauf genommen, sie ergeben sich eher durch Zufall oder aufgrund eines Irrtums oder weil es sich schlicht nicht vermeiden läßt. Instrumentelle Opfer dagegen erfüllen immer eine Funktion. Sie sind notwendig, damit ein Plan aufgeht.« Sie verstummte wieder, trank, blieb stumm. Mir ging durch den Sinn, daß sie vielleicht schon mehr als einmal durchgestanden hatte, was ich gerade durchstand. Als sie weitersprach, stockte sie ein wenig: »Schau mal, keine Ahnung, ich weiß es nicht, mir erzählt Tupra schon lange nichts mehr, und nicht daß du denkst, auch als unser Verhältnis noch besser war, hat er mir kaum etwas erzählt, ich meine, als ich ihm noch näher stand oder er eine größere Schwäche für mich hatte, er behält so gut wie alles für sich. Im Prinzip kommt es mir abwegig vor, daß der Staat oder die Krone oder die da oben« – und sie zeigte mit dem Finger dorthin, ich nahm an, daß sie die Oberbonzen vom SIS oder Secret Intelligence Service meinte, zu dem der MI 5 und der MI 6 zumindest früher gehört hatte – »eine solche Falle angeordnet haben, eine solche Operation gegen einen Rocksänger, eine Berühmtheit. Aber man kann nie wissen, in Amerika sind ja die lächerlichsten Sachen deklassifiziert worden, die CIA oder das FBI haben Akten über Leute wie Elvis Presley oder John Lennon angelegt und sie überwacht, es ist also alles möglich. Wir wissen nicht, was Dearlove getan hat, in was er verwickelt war, mit wem er in Verbindung gestanden und wen er erpreßt haben mag, für wen er eine Bedrohung darstellte, solange seine Glaubwürdigkeit unangetastet war (in dem Maß natürlich, in dem das bei einem Menschen wie ihm der Fall sein kann), oder welchen Leuten er Vorteile verschafft hat. Man erlebt mit den Unbedeutenden gewaltige Überraschungen, und mit den Harmlosen und mit den scheinbaren Mauerblümchen. Diese Sänger und Schauspieler drehen oft durch, manche von ihnen treten komischen Sekten bei oder konvertieren zum Islam, und damit ist heutzutage nicht zu spaßen, wie du weißt. Eine der ersten Lektionen, die man in diesem Metier lernt (oder besser noch von zu Hause mitbringt), besteht darin, daß niemand unbedeutend oder harmlos oder ein bloßes Mauerblümchen ist.«
»Bei dem Mal, als ich mich am längsten mit ihm unterhalten habe, in Edinburgh«, sagte ich, »oder besser gesagt, als ich zugehört habe, wie er sich mit seiner alten Freundin Genevieve Seabrook unterhielt, was seine Worte wahrhaftiger erscheinen läßt, weil er ihr gegenüber in keine Rolle schlüpfen mußte, da hatte ich nicht den Eindruck, daß er mit irgendwem liiert wäre, erst recht nicht mit jemandem von Interesse, und auch nicht, daß er dazu in der Lage gewesen wäre. Er beklagte sich darüber, daß er in England meist nur noch zahlend zum Zug komme. Ich glaube nicht,
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