Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Teilinformation er mir zu geben gedachte, und nun wollte er nicht durch unerwartete Wendungen oder Ablenkungen oder Unterbrechungen von seinem Skript abweichen (den Faden verlor er nie). Wenn dem so war, so würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als noch mindestens eine zu ertragen, dann nämlich, wenn ich ihm berichtete, was mit Dearlove passiert war, und ihn wenn nicht um eine Rechtfertigung, so doch um eine Stellungnahme zu Tupras Vorgehen ersuchte. Er ließ also meinen Vater beiseite und fuhr noch immer langsam fort, vielleicht so, als rezitierte er etwas zuvor auswendig Gelerntes: »Wir waren die ersten, die im Golf von Biscaya die Seeblockade der Nationalen durchbrachen (ich habe es immer skandalös gefunden, daß sie sich als solche bezeichneten). Wir liefen in einem französischen Kanonenboot von Bermeo, nahe Bilbao, aus und erreichten Saint-Jean-de-Luz ohne den geringsten Zwischenfall, den weitverbreiteten und geglaubten Gerüchten zum Trotz, daß dort überall Minen lägen. Das war eine franquistische Lüge, aber eine sehr wirkungsvolle, denn es verhinderte, daß Schiffe sich dorthin wagten und Lebensmittel ins Baskenland gelangten. Der Dean berichtete von unserer Überfahrt im Manchester Guardian, und wenige Tage später versuchte ein Handelsschiff, die Seven Seas Spray, ihr Glück von Saint-Jean-de-Luz aus in umgekehrte Richtung, als es schon dunkel geworden war. Und als sie am nächsten Morgen über die Flußmündung in Bilbao einlief, ohne auf der Überfahrt auf Minen oder Kriegsschiffe gestoßen zu sein, da drängten sich die ausgehungerten Bewohner der Stadt am Kai, ließen den Kapitän hochleben, der mit seiner Tochter auf der Brücke stand, und schrien: ›Es leben die englischen Seeleute! Es lebe die Freiheit!‹ Das muß ein bewegender Moment gewesen sein. Und wir hatten den Weg dafür freigemacht. Ein Jammer, daß wir die umgekehrte Route zurückgelegt hatten. Roberts hieß der Kapitän.« Mit weit offenen Augen hielt Wheeler einen Moment lang versonnen inne, als durchlebte er von neuem, was er damals zwar nicht selbst erfahren hatte, als dessen Urheber er sich jedoch sah. Dann fuhr er fort: »Zuvor hatten wir die Bombardierung von Durango gesehen. Zehn Minuten später, und es hätte uns erwischt, die Bomben fielen, als wir gerade auf dem Weg dorthin waren. Wir sahen es aus einem Straßengraben, aus der Ferne. Wir sahen, wie die Jagdflieger näherkamen, es waren deutsche Junkers 52 . Dann hörten wir ein lautes Fauchen, und über der Stadt stieg eine gewaltige schwarze Wolke auf. Als wir nach Einbruch der Dunkelheit schließlich dort einfuhren, war Durango fast völlig zerstört. Ersten Schätzungen zufolge gab es unter der Zivilbevölkerung circa achthundert Verletzte und zweihundert Tote, darunter zwei Priester und dreizehn Nonnen. In derselben Nacht ging aus Francos Hauptquartier die Radiomeldung um die Welt, die Roten hätten in Durango Kirchen gesprengt und Nonnen getötet, im erzkatholischen Baskenland. Auch zwei Priester traf es, während sie die Messe lasen, der eine spendete den Gläubigen gerade die Kommunion, der andere war just in dem Moment mit der Wandlung zugange. Das alles stimmte: Die Nonnen waren in der Kapelle der Heiligen Susanna gefallen, ein Priester in der Jesuitenkirche und der andere in der Marienkirche, sie hatten sie bombardiert, wie auch das Augustinerkloster. Ich weiß noch die Namen, diejenigen jedenfalls, die mir genannt wurden. Aber schuld waren nicht die Roten, sondern die Junkers. Man schrieb den 31 . März.« Er verstummte für einen Augenblick mit grimmigem Ausdruck, als hätte er den Zorn von damals wiedererlangt: Es war etwa siebzig Jahre her. »So war das in eurem Krieg. Eine Lüge nach der anderen, viele pro Tag und überall, das ist wie eine Überschwemmung, etwas, das verwüstet und ertränkt. Versucht man, eine davon zu entkräften, hat man am nächsten Morgen zehn neue. Man kommt nicht hinterher. Man läßt sie laufen, man resigniert. Wenn viele Leute sich dem Lügen widmen, ist das eine gewaltige Kraft, die man unmöglich aufhalten kann. Das war der erste Krieg, den ich selbst erlebte, ich war das nicht gewöhnt, in allen gibt es Lügen noch und nöcher, sie sind ein grundlegender Bestandteil davon, wenn nicht der wichtigste. Und das Schlimmste ist, daß nichts je endgültig widerlegt wird. Viele Jahre nach Ende eines Kriegs gibt es noch Leute, die bereit sind, den alten Trug aufrechtzuerhalten, jeden beliebigen, noch den unwahrscheinlichsten
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