Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
Vom Netzwerk:
Unsinn. Keine Lüge erlischt jemals ganz.«
    »Deshalb wäre es das Beste, daß überhaupt niemand etwas erzählte, ist es nicht so, Peter?« zitierte ich ihn. Das war es, was er mir kurz vor dem Mittagessen gesagt hatte, am Sonntag jenes schon lange zurückliegenden Wochenendes, während Frau Berry uns vom Fenster her Zeichen machte.
    Er erinnerte sich nicht daran oder merkte nicht, daß ich ihn zitierte, oder er ging darüber hinweg. Er strich sich über die lange, tiefe Narbe, die er links am Kinn hatte, das hatte ich ihn noch niemals tun sehen, er berührte oder erwähnte sie nie, und ich hatte ihn deshalb auch nie danach gefragt. Wenn sie für ihn nicht existierte, war das zu respektieren. Ich nahm an, daß sie von einer Kriegsverletzung stammte.
    »O nein, ich habe das Lügen später auch gelernt. Die Wahrheit erzählen ist auch nicht besser, glaub das nicht. Die Folgen sind manchmal dieselben.« Aber er beließ es nicht bei dieser Beobachtung, sondern setzte seine Erzählung auf etwas formelhafte Weise fort, als hätte er sich für diesen Tag einen narrativen Plan zurechtgelegt, das heißt für das nächste Mal, das ich ihn besuchen käme: »Wir waren kurz in Madrid, in Valencia und in Barcelona, und dann kehrte ich nach England zurück. Meine zweite Spanienreise kam ein Jahr später, im Sommer 1938 . Diesmal war mein Führer oder besser mein Antreiber Alan Hillgarth, der Chef unseres Marinegeheimdienstes in Spanien. Obwohl er sich fast immer auf Mallorca aufhielt (wo sein Sohn Jocelyn zur Welt kam, der Historiker, du kennst ihn doch, oder?), erteilte er mir den Auftrag, die Bewegungen von Francos Kriegsschiffen in den Häfen am Golf von Biskaya zu überwachen und zu verfolgen, denn man ging davon aus, daß ich gewisse Kenntnisse über die Region erworben hätte. In der Mehrzahl waren das natürlich deutsche und italienische Schiffe, die seit 1936 die britische Handelsflotte in der Kantabrischen See und im Mittelmeer bedrängten und angriffen, so daß die Admiralität interessiert war, so viel über ihre Eigenschaften und Liegeplätze zu erfahren wie möglich. Ich reiste als Wissenschaftler mit einem Forschungsauftrag der Universität, unter dem Vorwand, die alten und schlecht organisierten spanischen Archive zu durchforsten, und das habe ich durchaus getan, aus dieser Zeit stammen einige meiner Funde als Hispanist und Lusitanist: In Portugal, wohin ich abgeschoben wurde, fing ich an, meine Dissertation über die Quellen von Fernão Lopes vorzubereiten, dem Chronisten aus dem 14 . Jahrhundert, du weißt schon.« Tatsächlich hatte ich nicht die leiseste Ahnung. »Aber gut, das ist ein anderes Thema. Als ich auf den Cíes-Inseln Fotos von dem Kreuzer Canarias knipste, einem der wenigen Schiffe der spanischen Marine, die bei Ausbruch der Feindseligkeiten auf die Seite der Aufrührer übergewechselt waren, wie man sie nannte, wurde ich von der Guardia Civil verhaftet. Selbstverständlich wurde ich durchsucht, und man fand kompromittierendes Material, vor allem Bildaufnahmen. Normalerweise hätte man mich exekutieren müssen, wie du dir denken kannst. Wir befanden uns mitten im Krieg.« Wheeler legte eine Pause ein. Obwohl er auf die beschriebene etwas mechanische Weise erzählte, fast so, als wären die Ereignisse nicht ihm passiert, wußte er, wann es angezeigt war, die Ungewißheit ein wenig auszudehnen.
    »Und wie sind Sie davongekommen?« fragte ich, um ihm die Freude zu lassen.
    »Ich hatte Glück. Wie dein Vater. Wie jeder Überlebende aus jedem Krieg. Man brachte mich auf einem Motorboot zum Hotel Atlántico im Hafen von Vigo, und dort wurde ich von zwei SS -Offizieren befragt.« ›Immer diese zu Polizeiwachen oder Gefängnissen umfunktionierten Hotels‹, dachte ich, ›wie jenes in Alcalá de Henares, wo sie Nin gefoltert und ihm womöglich bei lebendigem Leib die Haut abgezogen haben.‹ »Im Jahr 1935 hatte ich einen Teil des Sommers in Bayern verbracht, auf einem Zeltlager der Hitlerjugend, das hatte … sagen wir, biographische Gründe, die hier nichts zur Sache tun. Als die SS -Leute das erfuhren und feststellten, daß es der Wahrheit entsprach und ich wußte, wovon ich redete, luden sie mich ein, mit ihnen zu Abend zu essen. Das hat mir das Leben gerettet. Man fragte bei der Regierung in Burgos nach, und soweit ich weiß, befahl Franco persönlich, man solle mich am Leben lassen und mich lediglich ausweisen. Nach einigen Tricksereien wurden mir die zur Ausreise nötigen Dokumente ausgestellt, und

Weitere Kostenlose Bücher