Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
bereits zerstört waren.
W heeler hielt inne und trank begierig Wasser, er leerte das Glas in einem Zug oder besser gesagt in mehreren langsamen und ausgedehnten Zügen, wie Kinder trinken, wenn sie großen Durst haben, aber nicht so viel Flüssigkeit auf einmal herunterbekommen und Pausen einlegen müssen, um wieder Atem zu schöpfen, ohne dabei die Lippen vom Rand des Glases zu lösen, als fürchteten sie, es könnte ihnen jemand etwas wegnehmen. Dann rief er nach Frau Berry, bat sie, mehr Wasser zu bringen und für mich Oliven zum Bier. »So macht ihr das doch immer noch in Spanien, oder?, eine Kleinigkeit dazu essen, damit euch der Alkohol nicht zu Kopfe steigt«, sagte er. »Ich habe welche aus deinem Land da, zerquetscht und in Zitronensaft eingelegt, ich glaube, sie kommen aus Andalusien. Sie sind ausgezeichnet. Man bekommt sie bei Taylor’s, fast gegenüber von deiner früheren Wohnung, wenn ich richtig informiert bin.« Ja, ich erinnerte mich gut an jenes Lebensmittelgeschäft. Obwohl es ziemlich teuer war, hatte ich mich während meiner Jahre in Oxford hauptsächlich von dessen frivolen Produkten ernährt (mit Kochen hatte ich es noch nie). Ich sagte Frau Berry, sie möge sich meinetwegen keine Umstände machen, das sei doch nicht nötig, doch Wheeler hatte sie bereits darum gebeten, und sein Wunsch war ihr Befehl. Als sie gegangen war und ich meine Oliven vor mir stehen hatte – aber sie ging nie ganz, sie kam und ging in kurzen Abständen, leise und geschäftig –, fragte ich Wheeler:
»War es das, woran sich Ihre Frau gewöhnt hat, Peter? An das, was Sie Niederträchtigkeiten genannt haben? Ich vermute, damals sah man sie nicht als solche an. Und es mag sein, daß sie es jetzt sind, zu der Zeit jedoch nicht waren. Nur Teil des Kampfes.« Ich verfiel in Nachdenken, ein wenig ratlos, weil ich selbst nicht ganz verstand, was ich gerade gesagt hatte. Also fügte ich hinzu: »Ich weiß nicht, ob es das geben kann. Daß etwas richtig ist, wenn man es tut, oder zumindest zu rechtfertigen, und daß es das nicht mehr ist, wenn man es getan hat, wo es sich doch um ein und dieselbe Sache handelt. Ich meine: Ich weiß nicht, ob ein und dasselbe etwas anderes sein kann, als gegenwärtig oder als vergangen, als Handlung oder als Erinnerung … Ach, hören Sie nicht auf mich.«
Wheeler sah mich an, als hätte er in meinem Durcheinander tatsächlich die Orientierung verloren, und er antwortete nicht gleich, das heißt, er schien in der Tat nicht auf mich zu hören.
»In einem der Bände seiner Autobiographie« sagte er, »ich weiß nicht mehr, ob Trail Sinister oder Black Boomerang (ich habe sie in den sechziger Jahren gelesen, zum Teil, um festzustellen, ob Valerie darin irgendwo erwähnt oder ob auf sie angespielt wurde; und nein, sie kam nicht vor, und auch nicht die Angelegenheit, in der sie den wichtigsten und aktivsten Part gespielt hat), erzählt Sefton Delmer, wie er Ende März 1945 nach Deutschland reiste und das Schauspiel mit eigenen Augen sah, dasselbe, das er zuvor in den letzten Tagen eures Kriegs in Spanien gesehen hatte (auch dort war er gewesen, als Korrespondent) und auch in Polen und in Frankreich: Leute auf der Flucht, die nicht wissen, wohin, und die eine Ruinenlandschaft nach der anderen durchqueren, das wenige, was ihnen geblieben ist oder was sie auf ihre unzulänglichen, kaum funktionstüchtigen Gefährte laden konnten, hinter sich her schleppend, oder zu Fuß über Straßen und Felder, mit kleinen Babys auf dem Rücken und mit leerem oder entsetztem Blick, manchmal sind die Kinder schon tot, aber sie können sich nicht dazu durchringen, sie auf irgendeinem Trampelpfad zu begraben, oder bringen es nicht übers Herz, sich von ihnen zu verabschieden, und so tragen sie sie weiter wie Abbilder ohne Sinn und Zweck … Und Sefton Delmer erzählt, er habe nicht angehalten, um danach zu fragen, ob sie sich etwa unter dem Eindruck der Meldungen von Radio Köln oder Radio Frankfurt, deren Frequenzen er usurpiert hatte, auf ihre ziellosen Wege begeben hätten. ›Ich wollte es nicht wissen. Ich fürchtete, die Antwort könnte »ja« lauten‹, schreibt er, das weiß ich noch. Das bedeutet, daß es ihm damals auch bewußt war. Aber er hat es getan und er hätte es auch wieder getan, wie fast alle alles taten, wie fast alle alles tun im Krieg. Alles, was sich ergibt, nur wenige Einfälle werden im Krieg nicht in die Tat umgesetzt. Wenn jemand eine Idee hat, wie man dem Feind Schaden zufügen
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