Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
›Juden‹ zu dem eines ›Mischlings ersten Grades‹ aufzusteigen, die ersten Grades wollten ›Mischlinge zweiten Grades‹ werden, und die zweiten Grades trachteten danach, sich ›arifizieren‹ zu lassen und die Deutschblütigkeit zu erhalten. So mancher beging Selbstmord, als er sich am Ende dem ›Judentum‹ zugeschlagen fand. Wer im Zweifel war, hatte davor solche Panik, daß zahlreiche Versuche unternommen wurden, einige davon mit Erfolg, die alten Geburtsurkunden der Großeltern zu fälschen, zu ersetzen, zu verstecken oder zu vernichten, vor allem zwischen 1933 und 1939 , danach war das fast nicht mehr möglich. Viele Beamte in Ratshäusern, Meldeämtern oder wo die Urkunden eben aufbewahrt wurden, ließen kompromittierende Unterlagen verschwinden, gegen exorbitante Geldsummen oder gar die Überschreibung von Immobilien; manchmal kam es günstigerweise sogar zu gezielten kleinen Bränden in den Archiven oder zu überaus selektiven Rattenplagen. Oder man ging darauf ein, das Dokument auszutauschen und aus einem jüdischen Großelternteil einen katholischen oder protestantischen zu machen, Änderung des Nachnamens inklusive, sofern die beigebrachte Fälschung hochwertig genug war, auf altem Papier etcetera. In kleineren Ortschaften kam das häufig vor, da war es am einfachsten. In Wirklichkeit vernichteten die Beamten das ausgetauschte oder unterschlagene Dokument natürlich so gut wie nie, es sei denn, der Auftraggeber verlangte dessen Herausgabe, um es persönlich verschwinden zu lassen. Und das war meist nicht der Fall, die Juden konnten kaum Bedingungen stellen, und so bewahrte der Beamte die Unterlagen auf, falls sie sich in Zukunft noch als nützlich erweisen sollten. Die Beweise verflüchtigten sich sozusagen nur zeitweilig. Komm, schenk mir jetzt doch etwas Sherry ein«, fügte Wheeler hinzu, als hätte es ihn munter gemacht, all das zum Besten zu geben. Geschichtliche Themen muntern alte Menschen häufig auf.
»Einen bestimmten?« fragte ich und zeigte auf das hohe, mit Flaschen gefüllte Regal zu meiner Rechten.
»Irgendeinen von dort«, sagte er. Ich stand auf, servierte ihm seinen Drink, er nippte zweimal daran und fuhr fort (jetzt hatte ich keine Befürchtungen mehr, daß er die Erzählung abbrechen könnte): »Kam man einem als ›Vierteljude‹ verkleideten ›Juden‹ oder ›Halbjuden‹ auf die Schliche, oder einem Mischling ersten Grades, der als einer zweiten Grades oder als ›Arier‹ auftrat, so zählte es wenig, was im Gesetz stand: Sein Schicksal hing dann vor allem von demjenigen ab, der ihn entdeckte, von dessen Belieben und davon, wo er den Fall zur Anzeige brachte. Es machte einen Unterschied, ob man mit der Geschichte aufs örtliche Polizeirevier oder zu einem einfachen Bürgermeister ging oder zur SS oder zur Gestapo. Unter Umständen passierte dem Betreffenden gar nichts, man drückte beide Augen zu, aber genausogut konnte es sein, daß er mit seiner ganzen Familie im Konzentrationslager landete, als Strafe für den Betrug. Vielleicht hast du schon einmal folgenden Ausspruch von Göring oder Goebbels gehört, einer der beiden war es, ich weiß nicht mehr, welcher, wahrscheinlich Göring: ›Wer Jude ist, bestimme ich.‹ Er hat das offenbar nicht gesagt, um jemanden zum Juden zu erklären, sondern genau umgekehrt, weil ihm das gerade gelegen kam. Entgegen dem allgemeinen Glauben und der von den Nazis selbst verbreiteten Propaganda gab es viele ›Mischlinge‹ und sogar ›Halbjuden‹, die dem Reich loyal gedient haben, selbst in der Wehrmacht oder auf wichtigen Posten in der Verwaltung oder in der Partei. Vor ein paar Jahren erschien ein Buch mit dem Titel Hitler’s Jewish Soldiers von einem gewissen Bryan Rigg, hast du das gelesen?, darin werden einige ziemlich erstaunliche Fälle geschildert. Ein blonder und blauäugiger ›Halbjude‹ namens Goldberg wurde fotografiert und in der propagandistischen Presse zum ›idealen deutschen Soldaten‹ hochstilisiert, wie findest du das? Es gab Oberste, Generäle und Admirale, die ›Halb-‹ oder ›Vierteljuden‹ waren, auch wenn Hitler sie opportunerweise zu ›Ariern‹ deklarierte. Bei einem Oberstleutnant jedoch, er hieß Ernst Bloch, wie der Philosoph, einem Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, mußte er zurückrudern und ihn aus dem Dienst entlassen, nachdem kein anderer als Himmler Einspruch erhoben hatte. Was danach aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, oder ich erinnere mich nicht daran: Wer weiß, ob er an einem
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