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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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könnte, bekommt er am Ende fast immer grünes Licht, selbst wenn das hinterher nicht öffentlich eingestanden wird. Die Interventionen waren so wirkungsvoll und so folgenschwer, daß die Nazibehörden sich gezwungen sahen, auf Funkwellen zu verzichten, wenn sie der Bevölkerung Befehle und Anordnungen zukommen ließen. Stattdessen mußten sie auf die Übertragung via Telegraphenkabel zurückgreifen, eine Technik, die wir nicht infiltrieren konnten, die aber viel komplizierter war und in der Reichweite beschränkt. Oh ja, Delmer und sein schwarzes Spiel haben ihren Beitrag geleistet. Ich weiß nicht, ob zum Sieg an sich, aber auf jeden Fall dazu, daß der Krieg früher gewonnen wurde.«
    Jetzt wirkte Wheeler wirklich erschöpft. Er konnte jeden Augenblick seine Erzählung abbrechen, den Rest für ein andermal aufsparen, schweigen, womöglich auch endgültig verstummen. Er konnte es sogar bereuen, überhaupt angefangen zu haben. Das wollte ich nicht riskieren, denn ich würde ihn vielleicht nie wieder in dieser gesprächigen Stimmung antreffen – für ihn wäre das Wort wohl ›talkative‹ gewesen –, wo er doch sonst sehr dazu neigte, seine Angelegenheiten für sich zu behalten. ›Wer weiß, ob ich ihm überhaupt je wieder begegne‹, dachte ich, ›wenn ich bald von hier fortgehe und nach Spanien zurückkehre. Das wahrscheinlichste ist, daß ich ihn danach nicht wiedersehe.‹ Und so wagte ich es, nachzuhaken und ihn sogar zur Eile anzutreiben.
    »Was ist Valerie passiert?« Es machte mir nichts mehr aus, ihren Namen auszusprechen. »Was war es, worin sie einen so wichtigen Part gespielt hat? Den aktivsten, sagten Sie.«
    Wheeler beugte sich ein wenig vor, stützte beide Hände auf den Griff seines Stocks, den er sich senkrecht zwischen die Beine gestellt hatte, und das Kinn in die Hände, mir schien es, als wollte er damit Anlauf nehmen oder sich auf eine Anstrengung vorbereiten. In seinen Augen blitzte es, und seine Stimme wurde wieder fester, sie war beim Sprechen immer leiser geworden. Mir kam in den Sinn, daß er womöglich noch nie oder nur vor langer Zeit und sehr wenigen Menschen erzählt hatte, was er nun wohl mir erzählen würde. Ganz sicher war ich noch nicht.
    »Nun ja, ich weiß nicht, wieweit du mit den nationalsozialistischen Rassengesetzen vertraut bist«, sagte er.
    »Ehrlich gesagt, nicht besonders«, antwortete ich schnell. Ich wollte keine weiteren Unterbrechungen riskieren. »Ich habe davon eine allgemeine Vorstellung, wie die meisten Leute.«
    »Sie waren ausgesprochen detailliert, um nicht zu sagen verworren, und außerdem änderten sie sich in den Jahren nach 1933 immer wieder. Zudem wechselte ihre Auslegung je nach den beteiligten Personen und Behörden. Die des Innenministeriums beispielsweise war weniger strikt als die von Dr. Adolf Wagner, der wichtigsten Autorität der NSDAP in diesen Fragen, und seine wiederum war weniger anspruchsvoll als die der SS . Aber das Wesentliche war folgendes: Als ›Jude‹ galt, wer drei oder vier jüdische Großeltern hatte, unbesehen aller weiteren Faktoren; als ›Halbjude‹ und de facto immer noch ›Jude‹ (sie wurden letzten Endes genauso behandelt, bis auf ganz wenige Ausnahmen), wer zwei jüdische Großeltern hatte und der jüdischen Religion angehörte oder zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rassengesetze mit einem Juden verheiratet war; hingegen galt als ›Mischling ersten Grades‹, wer ebenfalls zur Hälfte jüdische Großeltern hatte, jedoch weder jüdischen Glaubens war noch einen Ehepartner jüdischer Herkunft hatte; als ›Mischling zweiten Grades‹ schließlich galt, wer nur einen ›verunreinigenden‹ und drei ›nicht-jüdische‹, das heißt, ›arische‹ Großelternteile aufwies, das, was die Nazis ›deutsch‹ nannten. Diese Unterscheidungen waren von grundlegender Bedeutung, denn ›Mischlinge zweiten Grades‹ ließ man in der Regel in Frieden, und einige erhielten sogar die Deutschblütigkeitserklärung, nach vorangegangener Untersuchung des jeweiligen Falls durch Hitler persönlich, der das Thema offenbar für wichtig genug erachtete, um Zeit für die Lektüre der Akten zu finden oder sie sich zu nehmen und über die mögliche ›Neueinstufung‹ jedes einzelnen Antragstellers zu befinden, und das waren mehrere Tausende. Er machte das wohl, wenn er dazu kam, ich vermute, er wird es mit seinem Urteil nicht sehr eilig gehabt haben, im Unterschied zu den Betroffenen: Die einen ersuchten darum, vom Status eines

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