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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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das letzte, wozu sie unter gewöhnlichen Umständen in der Lage gewesen wäre. Sie war ein feiner Mensch, dem man blind vertrauen durfte. Sie war das blanke Gegenteil von Böswilligkeit, von Hinterlist, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll: Sie war lauter. Aber der Krieg bringt alles durcheinander oder schafft unauflösliche Loyalitätskonflikte. Es lag ebensowenig in ihrem Wesen, Mühen zu scheuen, sich nicht mit aller Kraft für ihr Land einzusetzen, dessen Überleben auf dem Spiel stand. Ihr saß bereits der Dorn im Fleisch, nicht mutig genug gewesen zu sein, um heimlich im Feindesland tätig zu werden, und sie hätte daher unmöglich für sich behalten können, was sie über Hartmut Rendl wußte, nachdem sie zu der Überzeugung gelangt war, daß die Information von Bedeutung war und englische Leben retten konnte. Doch jetzt hatte sich ihre Perspektive verändert, wie es in Friedenszeiten immer geschieht, außer für diejenigen unter uns, die wissen, daß der Krieg stets lauert und ganz nahe ist, auch wenn das fast niemand mehr glauben mag; und daß das, was uns im Frieden verdammenswert, schrecklich und übertrieben erscheint, sich schon morgen unter Zustimmung der gesamten Nation wiederholen könnte. ›Kriegsverbrechen‹, so nennt man heute alles mögliche, als bestünde der Krieg nicht daraus, daß Verbrechen begangen werden, die in ihrer großen Mehrzahl vorab verziehen sind. Jetzt aber gelang es Valerie nicht, den Nutzen zu sehen, die Weise, in der ihre Erzählung, die von ihr angeregte Idee, zum Sieg beigetragen hatten. Oder besser gesagt, sie war sicher, daß das Ergebnis dasselbe gewesen wäre, wenn sie geschwiegen hätte. Und darin hatte sie gewiß nicht unrecht, jeder Brite hätte das bezüglich des Scherfleins, das er beigetragen hatte, genauso sehen können, mit ganz wenigen Ausnahmen. Auch das passiert im Krieg, Jacobo. Alles wird nötig, und das schließt das Unnötige ein. Aber wer kann zu gegebener Zeit das eine vom anderen unterscheiden. Wenn es darum geht, den Feind zu vernichten oder auch nur zu besiegen, dann ist es unmöglich zu bemessen, was ihm wirklich schadet und was nur blinde Zerstörung ist, tote Mauren aufspießen, wie ihr sagt, oder Holz aus einem gefallenen Baum brechen.« Und die beiden letzten Ausdrücke sagte Wheeler in meiner Sprache. »Ich tat alles, um ihr das klarzumachen: ›Valerie, es war Krieg‹, sagte ich zu ihr, ›und im Krieg töten Soldaten zuweilen sogar ihre Kameraden, das weißt du doch, man nennt es Freundbeschuß; oder die Befehlshaber opfern ihre eigenen Truppen, schicken sie zur Schlachtbank, und nicht immer ist das von Nutzen: Denk an Gallipoli, an Chunuk Bair, an Suvla, und du kannst sicher sein, mit den Jahren werden wir auch noch von ähnlichen und ebenso blutigen Fällen in dem Krieg erfahren, den wir gerade gewonnen haben. In jedem Krieg fallen Unschuldige und werden Fehler und Frivolitäten begangen, und immer gibt es dumme oder rücksichtslose Politiker und Militärs, überall. In jedem Krieg gibt es Dinge, die nicht hätten sein müssen. Was glaubst du denn, daß nicht auch ich abscheuliche Taten vollbracht habe, wenn ich sie jetzt betrachte oder in der Zukunft, Taten, die ich mir vielleicht hätte sparen können? Ich habe sie in Kingston vollbracht und in Accra und in Colombo. Sie sind es jetzt und werden es in einiger Zeit noch mehr sein, je weiter sie zurückliegen, aber damals waren sie es nicht. Und eben das darf man nicht tun, sie von außen und mit kühlem Kopf betrachten. Nach einem Krieg darf man nicht zurückschauen, begreifst du das denn nicht? Um weiterleben zu können.‹«
    Wheeler hielt abermals inne, diesmal vor allem, um Atem zu schöpfen. Er hatte das sichtlich nötig. Sein Blick wirkte etwas ziellos, er war zur Treppe hin gewandt, ohne sie zu sehen. Ich spürte, daß er sehr müde und gleichzeitig aufgewühlt war, als hätte er die Worte über Gebühr noch einmal durchlebt, die er vor Jahrzehnten zu Valerie gesagt hatte, vielleicht in dem umlagerten Bett, vielleicht wenn sie ihn mit ihrem Weinen weckte und ihren Alpträumen, die der Wirklichkeit entsprachen, und das sind diejenigen, die man nicht erträgt, wenn das Wachen wiederholt, was der Traum sagte: ›Möge ich jetzt wie Blei auf deine Seele fallen, und mögest du den Nadelstich in deiner Brust fühlen: Verzag und stirb‹. Ich wartete. Und wartete. Und wartete. Und sagte schließlich:
    »Ich nehme an, es hat nichts geholfen.«
    »Nein, hat es nicht, und das Schlimmste

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