Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
noch sehr wenig Zeit, Jacobo. Fast gar keine.«
Die Musik hörte auf, und wenige Sekunden später hörte ich Frau Berry die Treppe herunterkommen. ›So, das war’s‹, dachte ich. ›Ich werde nicht erfahren, wie Valerie sich umgebracht hat und warum Peter es gesehen hat, auch wenn mir im Prinzip mehr Zeit bleibt als ihm, nicht fast gar keine. Und warum er es nicht verhindert hat, wenn er es doch gesehen hat.‹ Und ich dachte weiter: ›Aber ich kann mich auch nicht beschweren. Ich habe heute viel herausgefunden, und dabei bin ich gar nicht aus diesem Grund gekommen.‹ Doch Frau Berry betrat nicht das Wohnzimmer und rief uns nicht zum Mittagessen, sondern ging direkt in die Küche, und ich hörte sie dort herumhantieren. Möglicherweise hatten wir doch noch Zeit, wenn sie einige letzte Vorbereitungen treffen mußte und ich mich beeilte.
»Wie hat Valerie sich umgebracht, Peter?« fragte ich, nun ohne das geringste Taktgefühl. »Und wie kommt es, daß Sie es gesehen haben?«
Wheeler rutschte in seinem Sessel herum, bis er eine bequemere Haltung gefunden hatte, und führte den Daumen an die Achsel; fast steckte er ihn darunter, nach oben gedreht, wie eine winzige Gerte, und mir kam es vor, als würde er das gesamte Gewicht seines Brustkorbs darauf abladen. Es war, als müßte er sich auf etwas stützen, und wäre es nur symbolisch: ein kümmerlicher Daumen, so lang seine Finger auch sein mochten.
»Wir wohnten damals in einem Haus wie diesem, nur in jeder Hinsicht kleiner«, sagte er, »es hatte zwei oder drei Stockwerke, wie man’s nimmt, das oberste war nämlich sehr klein, es enthielt nur eine chambre de bonne, wo wir hin und wieder Besucher unterbrachten. Es lag, es liegt in der Plantation Road, unweit deiner früheren Wohnung. Selbstverständlich war es deutlich teurer, als meinem damaligen Gehalt entsprochen hätte, aber mein Erbe gestattete mir solche Privilegien, hat sie mir seit jeher gestattet. Nun denn, nach vier aufgewühlten und fast ganz durchwachten Nächten« – ›Ja, der Gram hat dein Bett umlagert und umlagert‹, wiederholte ich für mich – »überredete mich Valerie dazu, in das Zimmerchen im obersten Stockwerk umzuziehen, bis sie sich wieder beruhigt hätte, ich sollte etwas zum Schlafen kommen, sie hoffte, daß der Teufelskreis aus Alpträumen und Schlaflosigkeit, aus Selbsthaß im Wachen und Panik davor, einzuschlafen, nicht mehr viele Tage anhalten würde, im Moment ertrug sie sich weder im Schlaf noch im Wachzustand. Es machte mich beklommen, sie während dieser nächtlichen Stunden allein zu lassen, denn sie waren ohne Zweifel die schlimmsten und am schwersten zu durchquerenden, aber ich dachte auch, daß es ihr vielleicht guttun würde, sie alleine zu verbringen, um allmählich darüber hinwegzukommen. Vielleicht war es besser für sie, wenn ich nicht an ihrer Seite blieb, um mit ihr zu reden und sie zu trösten und ihr Fragen zu stellen, mit ihr zu rechten und zu argumentieren, auch das hatte während der vier Tage mit ihren schlaflosen Nächten nichts geholfen, kein bißchen. Ich weiß nicht: Wenn sich eine Situation nicht ändert, denkt man alles mögliche. Ich weiß noch, wie ich unruhig zu Bett ging und die Tür offenließ, um Valerie hören zu können, ich würde sofort zu ihr gehen, wenn sie nach mir rief, wir waren nur durch ein Stockwerk getrennt, durch zwei kurze Treppenstücke. Aber bei mir hatte sich eine solche Erschöpfung angesammelt, daß ich nach kurzer Zeit eingeschlafen war. Anscheinend war die Müdigkeit unüberwindlich, denn ich schaltete nicht einmal das Nachttischlämpchen aus und klappte auch nicht das Büchlein zu, in dem ich gelesen hatte, es blieb auf der Überdecke liegen. Im Morgengrauen wurde ich wach, und ich muß ganz still dagelegen haben, denn erst da, nicht vorher, fiel das Buch fast lautlos zu Boden: Es war Little Gidding, das letzte der Vier Quartette in der broschierten Faber-Ausgabe, so etwas kann man nicht vergessen, damals war es noch relativ neu, und ich hatte es während der Kriegs nicht lesen können, diese Sachen kamen nicht nach Ceylon oder an die Goldküste.« Und anschließend sprach er leise etwas, was sicherlich Verse oder Teile einzelner Verse waren: » ›Ash on an old man’s sleeve … This is the death of air … the constitution of silence … What we call the beginning is often the end …‹, all das, nicht wahr?« – oder aber: ›Asche am Rock eines Alten … Das ist der Tod der Luft … die Verfassung des Schweigens
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