Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
beigewohnt hatten, stieg Ilse mit den Mädchen in den Wagen, in dem sie fortgebracht wurden, und von keiner der drei hat man je wieder gehört. Vermutlich hatte sich ihre Spur verloren, als sie ins KZ kamen, und dort war wohl auch ihre ›Abstammung‹ in Vergessenheit geraten, das heißt der wahre Grund, aus dem sie dort waren, und so waren sie nun tatsächlich nichts anderes mehr als andere Jüdinnen oder bestenfalls ›Andersdenkende‹; nein, nicht bestenfalls: Ihr Schicksal wäre dasselbe gewesen. Maria wollte sich keinen Illusionen hingeben, sie hatte nicht die geringste Hoffnung. Sie nahm an, daß die drei tot waren, vor allem seit die Gaskammern und die Massenmorde bekannt geworden waren. Das also stand in dem Brief, Jacobo. Maria schloß mit den Worten, sie wisse nicht, ob Valerie noch am Leben sei und ob sie diese Zeilen je zu Gesicht bekommen würde. Aber wenn dem so wäre, möge sie von sich hören lassen und ihr helfen, vor allem im Hinblick auf Ilses Sohn, den jungen Rendl. Er muß damals elf oder zwölf gewesen sein.« Wheeler machte eine Pause, holte Luft und fügte hinzu: »Wollte Gott, sie hätte sie nie gelesen. Wollte Gott, ihr wäre nichts erzählt worden. Dann hätte ich nicht ansehen müssen, wie sie sich umbrachte. Und ich wäre nicht einsam und traurig zurückgeblieben.«
Wheeler verharrte stumm und nachdenklich und hob abermals die Rückseite des Handgelenks zur Stirn, als ob er sie von einem plötzlichen Schweißausbruch trocknen oder erneut die Temperatur prüfen wollte. ›Gib mir die Hand, laß uns spazieren‹, zitierte ich für mich. ›Auf diesen Feldern meiner Heimat, gesäumt von staubigen Olivenhainen, gehe ich einsam, traurig, müde, nachdenklich und alt.‹ Ich kannte dieses Gedicht seit meiner Kindheit, diese Worte hatte Antonio Machado an seine bereits verstorbene Kind-Ehefrau Leonor gerichtet, die im Alter von achtzehn an Tuberkulose gestorben war. Valerie war nicht gestorben, sondern sie hatte sich umgebracht, ein wenig, nicht viel älter, den Blick auf ihre eigene Sanduhr, die sie selbst in der Hand hielt. Aber sie hatte auch Peter so zurückgelassen, einsam, traurig, müde, nachdenklich und alt. So vieles er später noch getan haben mochte.
Nach dem, was Wheeler mir im Laufe unseres Gesprächs erzählt hatte, hätte ich diese Enthüllung eigentlich erwarten können, aber ich war so konsterniert, daß ich in diesem Moment nichts zu sagen wußte. Und da er nicht gleich weitersprach, erwähnte ich etwas, an das ich mich unwillkürlich erinnert fühlte, auch auf die Gefahr hin, seine Gedanken an einen anderen Ort zu lenken und so das Ende der Geschichte zu verpassen:
»Toby hat zu mir gesagt, ihm sei genau das passiert. Ich habe Ihnen davon erzählt, wissen Sie nicht mehr?« Und mir fiel auch Wheelers ungehaltene und überraschte Reaktion wieder ein, als er es von mir gehört hatte. ›Das hat er gesagt, ich habe gesehen, wie der Mensch …?‹, hatte er hochfahrend wiederholt, ohne den Satz zu beenden. »Er habe gesehen, wie der Mensch, den er liebte, sich umgebracht hat.«
Wheeler reagierte sofort, aber diesmal eher mitfühlend.
»Ja. Es hat mich enttäuscht, es hat mich ein wenig verärgert, als du mir davon erzähltest. Aber gut, was wußtest du schon. Ihm ist nichts dergleichen widerfahren; aber er spielte gerne den Geheimnisvollen und erweckte den Eindruck, eine turbulentere oder tragischere Vergangenheit gehabt zu haben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Ein Stück weit stimmte das natürlich schon: Auch er hatte einiges erlebt, wie fast jeder, der einen langen Krieg durchquert. Zweifellos hat er sich meine Geschichte angeeignet, als er dir diese Worte sagte, um die seine noch ein wenig auszuschmücken. Das ist das Schlechte am Erzählen, daß die meisten später vergessen, wie oder durch wen sie erfahren haben, was sie wissen, und es gibt Personen, die sogar glauben, sie hätten es selbst erlebt oder es stamme von ihnen selbst, was auch immer es sei, eine Erzählung, eine Idee, eine Meinung, eine Anekdote, ein Witz, ein Aphorismus, ein Stil oder manchmal sogar ein ganzer Text, die sie sich selbstgefällig aneignen, oder vielleicht wissen sie durchaus, daß sie einen Diebstahl begehen, aber sie verbannen das aus ihren Gedanken und so verbergen sie es vor sich selbst. Das ist überaus charakteristisch für unsere Zeit, die nichts und niemandem den Vorrang lassen will. Vielleicht hätte ich mich nicht so über den armen Toby ärgern sollen, rückblickend
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