Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
… Was wir Anfang nennen, ist oft das Ende …‹. Und dann fuhr er fort: »Mich hat also nicht der Fall des Buches geweckt, ich weiß nicht, was es war. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß ich alleine in der chambre de bonne lag, und mich zu erinnern, warum. Ich hob das Bändchen auf und legte es auf den Nachttisch, ich sah auf die Uhr, es war fast vier, ich schaltete das Licht aus, mit einer mechanischen Geste und nicht in der Absicht, sofort weiterzuschlafen, die Unruhe war wieder da. Lieber wollte ich, beschloß ich, erst einen Blick ins Schlafzimmer werfen, ohne hineinzugehen, ich wollte nachsehen, ob Valerie schlief oder nicht, und sie andernfalls fragen, ob sie etwas brauche; oder ob sie mich vielleicht dort haben wolle. Ich zog meinen Morgenmantel an und ging vorsichtig hinunter, um sie nicht aufzuwecken, falls sie denn eingeschlafen war, und da sah ich sie, wo sie nicht hätte sein sollen, sie saß auf der obersten Stufe des ersten Treppenstücks, also mit dem Rücken zu mir.« Wheeler deutete nach links oben, zum ersten Treppenabsatz seines jetzigen Hauses, am Cherwell-Fluß und nicht in der Plantation Road. »Genau dort, wo du sagst, daß du einen Blutfleck gesehen hättest. Merkwürdig, nicht wahr? Ich sah sie in Straßenkleidung, nicht im Nachthemd oder im Morgenmantel, als ob sie sich gar nicht hingelegt hätte oder als ob sie ausgehen wollte, und das war, was mich am meisten verwunderte, in der äußerst knappen Zeit, die ich hatte, um mich zu wundern. Aber ich erschrak nicht, keine, wirklich keine Sekunde lang, weder in jenen flüchtigen Augenblicken noch zuvor befiel mich der Verdacht, befiel mich die Furcht, daß sie das tun könnte, was sie dann getan hat, nicht ein einziges Mal. Da habe ich versagt. Meine Gabe oder meine Fähigkeit oder Fertigkeit oder wie du es nennen magst, über die auch ihr verfügt, Tupra und du und diese junge Halbspanierin, die Gabe, die Toby hatte und die ich so oft in Dingen gehabt habe, die mich nicht betrafen, bei jener Gelegenheit hat sie mich jämmerlich im Stich gelassen. Wie konnte ich es nicht erraten, wie konnte ich es nicht sehen, wie kann es sein, daß ich nicht das geringste Anzeichen erkannt habe, diese Frage stelle ich mir seit dem Jahr 1946 . Wie konnte ich nur so idiotisch optimistisch, vertrauensvoll, gedankenlos sein, wie hat nur nichts mich davor gewarnt. Viel Zeit, nicht wahr? In dem, was einen am meisten angeht, will man die Warnsignale nie sehen, tatsächlich gibt es sie ja immer. In allem. Man ist nie bereit, sich das Schlimmste vorzustellen.« Jetzt bedeckte sich Wheeler mit einer Hand die Augen, er hielt sie schräg nach unten geneigt wie einen Mützenschirm, vielleicht so, wie ich es in einigen Momenten getan hatte, während ich Tupras schreckliche Videos sah und nicht sah, in der Nacht, in der er Reresby war. »Ich verstand ihren Kummer, ihr schlechtes Gewissen, sogar ihr Entsetzen«, sprach Wheeler weiter, mit verborgenem Blick. »Aber ich dachte, daß das früher oder später wieder vorbeigehen oder nachlassen würde, wie bei fast allen vorbeiging, was sie im Krieg gesehen oder getan, was sie verloren und erlitten hatten. Bis zu einem gewissen Punkt, versteht sich, so weit, daß sie damit leben konnten. Das ist einer der Vorteile, die die Zeit des Friedens für diejenigen bringt, die sich nicht weiter im Krieg befinden, einige von uns müssen weitermachen, wachsam bleiben. Sie bringt das Vergessen, zumindest an der Oberfläche, oder das Gefühl, alles sei nur ein Traum gewesen. Auch wenn er sich jede Nacht wiederholt und tagsüber lauert: nur ein böser Traum. Sehr böse. Aber immerhin hatten wir gesiegt. ›Valerie‹, sagte ich zu ihr, das war das einzige, wofür ich noch Zeit fand. Sie hatte ihr Haar hochgebunden. Sie drehte sich nicht um, ich sah, wie ihr Nacken und ihr Rücken erzitterten, und dann fiel sie ruckweise mit dem ganzen Körper hintenüber, während zur gleichen Zeit der Knall ertönte. Und erst da, inmitten meiner Verzweiflung und Ungläubigkeit, wurde mir klar, daß sie wer weiß wie lange dort gesessen hatte, in den Händen das Jagdgewehr, mit dem sie auf ihr Herz zielte. Vielleicht hatte sie Zweifel gehabt oder den Moment abgewartet, in dem sie den größten Mut verspürte, sie hatte doch so wenig davon. Bestimmt war ich das Signal, war es meine Präsenz, meine Stimme, war es, daß sie ihren Namen hörte.« – ›Seltsam, selbst den eigenen Namen wegzulassen. Seltsam, die Wünsche nicht
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