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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Lachen, ohne Spott oder nur mit dem, den man für den naiven Ausspruch oder Unwillen eines Kindes übrig hat, und ich nutzte ihre vorübergehende Unachtsamkeit, um dorthin zu sehen, wohin ich versuchte nicht zu starren, sie hatte die Beine noch nicht wieder übereinandergeschlagen.
    »Entschuldige«, sagte sie, »aber ich finde es witzig, das auch bei dir festzustellen, schlau, wie du bist. Es ist unglaublich, wie schlecht wir uns alle sehen, uns selbst, wie schlecht wir uns zu beurteilen und unsere Stärken und Schwächen einzuschätzen wissen. Selbst diejenigen von uns, die am begabtesten und geübtesten darin sind, sich in andere zu vertiefen und sie zu entschlüsseln, werden einäugig und dumm, wenn sie sich selbst betrachten. Der Mangel an Distanz, daran wird es liegen, und die Unmöglichkeit, uns zu beobachten, ohne gleichzeitig zu wissen, daß wir uns sehen. Wenn wir unser eigenes Publikum sind, spielen wir uns am meisten vor und verfälschen uns und machen uns zurecht.« Sie hielt inne und sah mich mit einer Mischung aus freundlichem Erstaunen und unwillkürlichem Mitleid an. Sie hatte mich ›schlau‹ genannt, und es war ihr spontan über die Lippen gekommen; wenn das Schmeichelei war, dann hatte sie sie gut bemäntelt. »Merkst du denn nicht, Jaime, was für einen Narren Bertie an dir gefressen hat? Wie sehr du ihn anregst und amüsierst? Wie er dir jetzt eine so große Sympathie entgegenbringt, daß er sich immer bemühen wird, sich dem anzunähern, was du siehst, vorausgesetzt, es ist nicht abwegig, wie auch dem, was du sagst, und sei es auch nur, um sich selbst zu bestätigen, daß er mit dir einen großartigen Kauf gemacht, einen phantastischen Neuzugang verpflichtet hat? Du mußt außerdem bedenken, daß du nicht nur auf Empfehlung von Wheeler gekommen bist, sondern von Rylands, direkt aus dem Jenseits, von seinem Meister. Natürlich wird das nicht immer so bleiben; er wird deiner irgendwann überdrüssig werden oder du wirst Routine für ihn; er wird dich sogar manchmal mißbilligen, dich verachten, Bertie ist sehr unbeständig, fast alles wird ihm schnell langweilig, oder es kommt und geht in Phasen. Aber jetzt bist du die große Neuheit, und außerdem liegt ihr auf eure männliche, nüchterne oder stillschweigende Art oder was es auch ist, auf derselben Wellenlänge, das weiß ich ganz genau. In diesem Augenblick hast du auf ihn sehr viel mehr Einfluß, als du dir vorstellst, und du hast es anscheinend nicht einmal gemerkt. Das ist etwas Vorübergehendes, wenn du willst, und Abgemessenes, Bertie gibt sein Mißtrauen gegenüber niemandem je ganz auf, und man kann ihn nicht manipulieren, auch kaum führen oder auf Abwege bringen. Wohl aber Zweifel in ihm säen in einigen wenigen Bereichen, und du bist dazu jetzt in der Lage. Ich weiß das gut, weil ich durch diesen Prozeß selbst hindurchgegangen bin und ihn wiedererkenne. Ich erkenne sein Wohlgefallen und sein Behagen wieder, wie der Umgang mit dir ihn amüsiert und anregt, mehr oder weniger so, wie ihn früher meine Gesellschaft in gute Stimmung versetzte. Auch an mir hatte er einen Narren gefressen, das ging lange Zeit so. Wenn auch nicht gerade auf dieselbe Weise wie zwischen euch Männern. Und so viel hat sich daran nicht geändert, ich beklage mich nicht über einen Magel an persönlicher Wertschätzung oder beruflicher Anerkennung. Aber er sieht in mir nichts mehr von dem kleinen täglichen Fest, das ich am Anfang und auch später noch für ihn bedeutet habe, in Wahrheit hat es mit mir ziemlich lange gedauert, ich sollte das nicht selber sagen, aber so war es, frag Mulryan oder Rendel oder Jane Treves, als Frau war sie eifersüchtiger, du wirst sie schon noch kennenlernen, sie fühlte sich zurückgesetzt, wenn wir mal beide im Einsatz waren. Du kannst ihn jetzt überzeugen, Jaime. Sicher nicht übermorgen und auch heute nicht von allem Möglichen, aber doch von dem, worin er unsicher ist und dich für überragend hält. Es geht hier um Mut und Feigheit, ich habe es dir schon gesagt, er ist von deiner Kompetenz in diesen Fragen überzeugt. Wie ich übrigens auch, du hast dafür wirklich ein Auge. Darum bitte ich dich, Jaime. Dieser Mann würde die Schulden tilgen, und mein Vater wäre gerettet. Du siehst: Es ist ein großer Gefallen.«
    Sie hatte diese Floskel mehrmals benutzt, es war eine Form, ›bitte‹ zu sagen, ohne es direkt und mit den vorgeschriebenen Worten zu sagen, die ein Flehen oder Bitten erkennen lassen, vor allem, wenn sie

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