Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
tun ist, bis du siehst, was zu tun ist, oder bis du aus Madrid gerufen wirst, bis jemand zu dir sagt: ›Komm zurück‹. Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube, daß dein Stolz nicht an dieser Sache hängt. Deshalb bitte ich dich und nicht Bertie. Was macht dir das schon aus. Es ist wirklich ein großer Gefallen.«
›Komm, komm, ich habe mich vorher so geirrt‹, dachte ich. ›Nimm wieder diesen Platz an meiner Seite ein, ich habe nicht verstanden, dich zu sehen. Komm. Komm zu mir. Komm zurück. Und bleib für immer hier.‹ Die Nächte vergingen weiter, und ich hörte kein einziges Wort dieser Art, nichts Entsprechendes, nicht einmal ein widersprüchliches Gemurmel oder ein falsches Echo. Vielleicht hatte Pérez Nuix recht, vielleicht war ich hier nur im Wartestand, ›waiting without hope‹, wie ein englischer Dichter gesagt hat, den später so viele kopierten. Aber wenn die Stimme niemals käme, weder am Telefon noch in einem unerwarteten Brief noch als persönliche Äußerung, wenn ich endlich meine Kinder besuchte, dann würde ein Tag kommen, an dem ich mit dem Gefühl erwachen würde, nicht mehr zu warten (›Gestern noch, ja, aber heute? Ich bin einen Tag älter, das ist der einzige Unterschied, und doch hat mein Leben sich geändert. Ich warte nicht mehr.‹). An diesem Morgen würde ich entdecken, daß ich mich an London gewöhnt hatte, an Tupra und an Pérez Nuix, an Mulryan und an Rendel, an das namenlose Büro und an meine tägliche Arbeit und gelegentlich an Wheeler, der Luisa gekannt hatte und der dann mit einem Mal Verbindung mit meinem Vergessen verwandeln würde. Ich würde entdecken, daß ich mich vollkommen an sie gewöhnt hatte, ich meine, so sehr, daß ich mich, wenn ich die Augen aufschlug, nicht wundern und mir über keinen von ihnen Gedanken machen würde. Sie wären mein Alltag und meine Welt, wie alles, was grundlos ist, und wie die Luft, und Luisa würde ich nicht vermissen, auch nicht meine vergangene Stadt und mein vergangenes Leben. Nur die Kinder.
Ich ließ das Fenster herunter, ich begann, die frische Luft etwas zu spüren, und vor allem sah ich, daß sie sie spürte: Sie trug keine Strümpfe mehr, ich sah, daß sie versucht war, den Rock langzuziehen, um die Schenkel zu schützen und mich so des Anblicks zu berauben, der mir gefiel. Aber ich blieb noch an meinem Platz, mit dem Rücken zur Straße, zum Himmel, zum Regen. Und ich dachte auch: ›Diese Frau ist auf dem Weg, mich zu überzeugen, wie sie es zweifellos vorausgesehen hat. Aber ich habe es noch immer in der Hand, mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ oder ›Kann sein‹ zu antworten.‹
»Vorher hast du gesagt, daß ich fast nicht lügen müßte«, antwortete ich. »Was genau bedeutet dieses ›fast‹? Was müßte ich an Incompara angeblich nicht sehen oder doch sehen, das ich wahrscheinlich durchaus sehen oder eben nicht sehen werde? Was es auch sein mag, auch Tupra wird es sehen oder nicht sehen, meinst du nicht?«
Die junge Pérez Nuix trank kaum noch etwas. Entweder war ihr der heftige Durst vergangen oder sie wußte genau, wieviel sie vertrug, und richtete sich danach. Dafür rauchte sie. Sie zündete eine weitere Karelias an, die leichte Schärfe mußte ihr zugesagt haben. Sie stellte die Beine wieder nebeneinander, das Feuerzeug in der Hand, und hielt sie nicht sehr geschlossen, und da glaubte ich von meinem Standort aus das obere Ende zwischen den beiden zu sehen, die Spitze eines weißen Slips. Ich versuchte, nicht hinzustarren, sie hätte das sogleich bemerkt. Ich erlaubte meinen Augen nur, immer mal wieder flüchtig darüberzugleiten.
»Bestimmte grundlegende Dinge sind bei einem Treffen, einem Gespräch oder auf einem Video gar nicht so einfach festzustellen, ich weiß nicht, ob es eines von Incompara gibt, das Bertie dir zeigen könnte. Es ist nicht wahrscheinlich, aber es kann sein, er kann von fast allen welche bekommen. Es ist zum Beispiel nicht einfach zu bemerken, ob jemand feige ist und dich im Augenblick größter Gefahr im Stich lassen wird, vor allem, wenn es um eine körperliche Gefahr geht, oder was weiß ich, um eine Gefängnisstrafe. Ich habe den Eindruck, daß Incompara so ein Mensch ist, aufgrund der beiden Male, die ich ihn gesehen habe. Ich kann mich täuschen, aber der Bericht darf das in keinem Fall widerspiegeln, das würde ihm irreparablen Schaden zufügen. Diejenigen, die uns damit beauftragt haben, würden mit Sicherheit nichts von ihm wissen wollen, wenn man ihm diese Eigenschaft
Weitere Kostenlose Bücher