Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
öffentlichen Toilette ein Schwert ziehen und einem anderen in meiner Gegenwart damit drohen würde, ihm den Kopf abzuschneiden, hätte ich nicht die geringste Ahnung gehabt oder ich hätte mich getäuscht, wenn ich doch aufs Geratewohl eine Vermutung geäußert hätte. Es wäre mir so unwahrscheinlich, so anachronistisch, so unglaubwürdig erschienen, daß ich womöglich gewagt hätte, mit dem Optimismus, der mit den Vorstellungen von etwas einhergeht, das nicht geschehen wird oder nur hypothetisch und daher unmöglich ist, zu antworten: ›Ich würde ihn daran hindern und ihm in den Arm fallen und den Hieb abfangen, ich würde ihn zwingen, es loszulassen, ich würde ihn entwaffnen.‹ Oder wenn das Bild mir lebhaft vor Augen gestanden hätte und mir einen Augenblick lang glaubhaft oder realistisch vorgekommen wäre, dann hätte ich vielleicht geantwortet: ›Was sagst du da, was für ein Alptraum, wie furchtbar. Ich würde davonrennen, ohne mich umzusehen, ich würde die Beine in die Hand nehmen, damit mich nicht ein beidhändig geführter Hieb träfe, damit nicht ich die Wunde davontrüge.‹ Nicht lange nach jener regnerischen Nacht war das eingetreten, und ich war auf halbem Weg stehengeblieben, um es irgendwie auszudrücken. Weder hatte ich mich dem Mann entgegengestellt, noch war ich geflohen. Ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt und auch nicht die Augen geschlossen, wie De la Garza sie geschlossen hatte und wie ich sie später zu Hause bei Tupra schließen sollte, wo nicht so eine reale oder körperliche Gefahr vorlag, dafür aber vielleicht eine größere moralische oder eine Gefahr für das Gewissen; ich war bestürzt und erschrocken stehengeblieben und hatte ihn angeschrien, ich hatte mich der Sprache bedient, die manches Mal ebenso Einhalt gebietet wie die Hand und schneller ist und andere Male nichts nützt und nicht einmal gehört wird, und ich hatte auch voll Ohnmacht zugesehen, oder vielleicht war es Vorsicht, besorgter um meine noch heile Haut als um die des schon verurteilten Opfers, das man nicht vor seinem Schicksal bewahren konnte. Ich weiß nicht, ob das normal oder feige ist. Ja, Pérez Nuix hatte recht: Meistens weiß man nicht einmal, was ein solches Verhalten ist, worin es besteht. Für die Feigheit gibt es unzählige Verkleidungen und Masken oder sie tritt nie in Reinform auf. Meistens erkennt man sie nicht einmal, weil es nicht möglich ist, sie von allem übrigen zu trennen, was uns ausmacht, sie aus dem Kern eines jeden herauszubrechen oder zu isolieren oder sie zu bestimmen. Man erkennt sie nicht in sich selbst, wohl aber in den anderen, da ist sie seltsamerweise unterscheidbar, wenn sie sich äußert. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob es stimmte, was Pérez Nuix behauptete und anscheinend auch Tupra, daß ich besonders befähigt dafür sein sollte, sie vorzeitig bei Leuten wahrzunehmen, sie vorauszusagen. Sicher war ich mir dagegen, daß ich sie in mir nicht zu sehen verstand, ebensowenig wie den Mut, weder bevor noch nachdem sie sich zeigten. Es ist bedrückend, hier keine Gewissheit zu haben und überdies zu wissen, daß man es es nie erfahren wird, doch so leben wir.
»Ich glaube, du überschätzt den Einfluß«, antwortete ich, »den ich in diesem schwierigen Bereich oder in jedem anderen auf Tupra und seine Ansichten haben kann. Ich glaube nicht, daß irgend etwas, das ich sehe, ihn veranlassen könnte, eine eigene Sicht aufzugeben oder zu ändern, ich meine, wenn er sie hat, wenn er etwas erfaßt hat, und er erfaßt immer viele Dinge. Schon bei unserer ersten Begegnung ist mir sein Blick aufgefallen, weil er so etwas Gewinnendes, Allumfassendes, Würdigendes hatte. Diese schmeichelnden und zugleich furchteinflößenden Augen, denen es niemals gleichgültig ist, was sie vor sich haben, von so aktiver Bereitschaft, daß sie den Eindruck machen, es gehe ihnen darum, dem von ihnen Erblickten sogleich auf den Grund zu gehen, einer Person, einem Gegenstand, einer Geste, einer Szene. Als würden sie jedes Bild in sich aufnehmen, das vor ihnen auftaucht, und es erfassen. Schau, so schwer greifbar Feigheit auch ist, so etwas würde ihm nicht entgehen. Und wenn ich sie an deinem Freund bemerken sollte, wie du sagst, dann wird er das auch tun, und er wird sich seine Gedanken machen. Ich werde sie ihm nicht austreiben, und wenn ich mich noch so bemühe. Und wenn ich ihn betrunken mache.«
Die junge Pérez Nuix brach in Lachen aus, ein sympathisches, leicht mütterliches
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